Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
menschlicher Knochen. Dem Rätsel, warum sie seit 100 Jahren unentdeckt in dem alten Haus lagen. Ein zweiter Artikel, unauffälliger in die unterste Ecke gedrückt, trug die Überschrift:
Keine neuen Erkenntnisse im Frankenstein-Mord.
Die Zeilen sprachen vom Tod einer amerikanischen Studentin, die dem widerlichen Experiment eines offenkundig Wahnsinnigen zum Opfer gefallen war. Die Polizei verweigerte nähere Auskünfte dazu, aus ermittlungstaktischen Gründen, wie es hieß. Meist ein Synonym dafür, dass sie im Dunkeln tappten. Niemand wusste zu sagen, wie viele amerikanische Studentinnen sich zur Zeit in Singapur aufhielten. Für diese bizarre Tragödie kam nur eine infrage. Eine, der er vor kurzem begegnet war, im Amtszimmer von Inspector Sung. Seufzend schloss Leonard die Augen. Das Schicksal dieses Mädchens versetzte ihm einen weiteren Schlag. Weil er es ahnte. Sie starb seinetwegen. Das alles musste ein Ende haben.
Zwei schlanke Arme rankten sic h um seinen Hals, billiges Parfum umwehte seine Nase.
„Du hast gesagt, du kommst nicht mehr. Jetzt bist du wieder da. Wieso hast du immer noch keine Lust zum Bumsen?“
Leonard drückte seiner Bekanntschaft aus der Bar Indochine einen verhaltenen Kuss auf die Wange.
„Ich bin aus einem anderen Grund hier, Jeanny.“
Sie behauptete, das sei ihr Name. „Jeanny. Sonst nichts. Nur Jeanny. Für all meine Freunde.“
Vermutlich meinte sie: für all ihre Freier. Aber nun war sie auch für ihn Jeanny. Sonst nichts.
„Hose, zwei T-Shirts und all das Zeugs“, sagte sie und legte ihm eine Einkaufstüte auf den Schoß, Raffles City Shopping Mall .
„Deine alten Klamotten hab ich weggeschmissen. Mann, wo hast du dich rumgetrieben gestern?“
Selbst Jeanny verschwieg er, in ein Haus eingebrochen zu sein. Um es bei der Gelegenheit dem Erdboden gleichzumachen.
Er hatte nur ein Überraschungsmoment für sich rausholen wollen, indem er mit der Treppe niedersauste. Weder er selbst noch seine Gegner hatten damit gerechnet, dass gleich die ganze Konstruktion nachgeben würde. In dem dichten Geröllnebel war es ihm gelungen, durch ein rückwärtiges Fenster im Erdgeschoss zu brechen, gerade noch rechtzeitig, bevor das Dach heruntergekommen war.
Mister Khuo freute das also besonders, dachte er höhnisch. Khuo. Diesen Namen wollte der unglückliche Doktor Pathom in dieser grausam hoffnungslosen Weise in sein eigenes Blut schreiben. Mister Chan Khuo, wie sich herausstellte. Von Chan Khuo Far Eastern Enterprises, eines der führenden Unternehmen in Singapur. Das Fragezeichen, der unsichtbare Gegner, der gefährlichste von allen. Der, der seine Eltern auf dem Gewissen hatte, bekam nun einen Namen. Kavenay hatte recht behalten. Chan Khuo war eine große Nummer. Vielleicht sogar zu groß. Was konnte er gegen einen Milliardär unternehmen, der tausend Augen, Ohren und Arme besaß? Seine Macht musste grenzenlos sein, wenn er sich eine offene Schießerei mit dem Singapore Crime Department leistete. Ein ganzes Frachtschiff samt Mannschaft verschwinden ließ und einen Mord in Malaysia in Auftrag gab. Von welchem Teufel war Chan Khuo besessen? Niemand befahl solche Massaker nur wegen eines Dolches, so magisch er sein mochte.
Er schickte Jeanny für weitere Besorgungen los, um sich noch einmal in Ruhe dem widmen zu können, wovon er sich Antworten erhoffte. Einige bekam er, aber noch mehr neue Fragen. Eines trug wesentlich zu seiner Beruhigung bei. Das Fellbündel bewahrte das dürftige Erbe eines britischen Kolonialoffiziers, Captain Blackford Conley. Die Fotografie zeigte ihn und nicht Leonard. In einem Militärarchiv hatte er Angaben über seine ehemalige Einheit gefunden, die der Burma Field Force angehörte. Jene Streitkräfte, die im Jahr 1885 den dritten und letzten anglo-burmesischen Krieg geführt hatten. Es blieb nur die ungeheuerliche Ähnlichkeit, die ein sonderbarer Zufall sein mochte. Wenn auch der sonderbarste Zufall, dem Leonard je begegnete. Denn die einzige andere Möglichkeit kam nicht in Betracht. Dass er mit Captain Blackford Conley verwandt war. In frühen Jahren hatten Martha und Evan in einer vorübergehenden Laune nach ihren Ahnen geforscht. Sie besuchten alte, dunkle Ortschaften in der Salisbury Plain und kramten in muffigen Stuben mittelalterlicher Granithäuschen in vergilbten Dokumenten. Ihre Familiengeschichte deckten sie über vier oder fünf Generationen auf. Keiner der Ahnen hatte jemals in der britischen Kolonialarmee gedient.
Nur allmählich wich
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