Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
kurzen, kräftigen Schlägen. Auf diese Weise schaffte er eine kopfgroße Öffnung. Dann nahm er die Taschenlampe auf und richtete den Strahl hinein.
Vor Jahren hatt er drei Monate im Leuchtturm von Rinnalsay verbracht, einer sturmzerzausten Felsinsel der Orkneys. Dort, wo das zerfranste Schottland seine dürren Finger in das kalte Nordmeer reckte. Ein Winter mit entsetzlich langen, dunklen Nächten, allein, ohne je einer menschlichen Seele zu begegnen. Einsamkeit getränkt mit düsteren, von schwarzen Wolken verhangenen Träumen, die sich nach einer Weile kaum von den Wachzuständen unterschieden. In einem kahlen Gemäuer, durchdrungen von Geflüster, als riefen ihn die rastlosen Seelen derer, die das Meer verschlungen hatte. Nie hatte ihn dort in der heulenden Finsternis ein ähnliches Grauen gepackt als im Angesicht dessen, was das trübe Licht nun aus dem Dunkel holte.
Makam saya.
Dies war ihr Grab. Das Ziegelstein-Gebilde verbarg das stumpfgelbe Skelett eines Menschen. Fetzen von Kleidung hingen daran herunter. Es lehnte zusammengesunken an der rückwärtigen Wand des Zimmers. Zwei Gegenstände zu seinen Füßen erschauerten Leonard mehr als alles andere. Eine verrostete Kelle und eine Tonschale. Beides überzogen mit einer weißlichen Substanz. Die in hundert Jahren versteinerten Reste von Mörtel. Sie hatte sich selbst eingemauert.
Der Unterkiefer ihres Schädels knickte in einem grotesken Winkel ab. Ein stummer Schrei, der von den grauenhaften Qualen des Verdurstens zeugte. Dies war die junge Frau, die sich einst in einen Weißen verliebt, das ganze Haus mit den gelben Blumen ihrer Sehnsucht geschmückt hatte. Der grauenvolle Fund überschüttete ihn mit Fragen wie ein Sturzbach. Zu viele, um auch nur die erste zu beantworten. Ob der Gram über eine verlorene Liebe allein jemanden in einen solch entsetzlichen Tod zwingen konnte. Die nächste Entdeckung brachte ihn beinahe gänzlich um den Verstand. Die bleichen Knochen ihrer linken Hand umklammerten einen Gegenstand, vollständig mit Staub bedeckt. Er rieselte herab wie schmutziges Wasser, als er das Ding griff und herausholte. Ein schmales Bündel, eingewickelt in ein Tierfell. Auf der Oberseite erkannte er den dreizackigen Stern, umgeben von drei Symbolen, der liegende Halbmond, der Kegel, die Flamme. In der Mitte des Sterns ein viertes Zeichen, eines, das er schon auf dem Palmblatt gesehen und das Mahangir als das Chu-Po-Zeichen für die Ziffer 1 erkannt hatte. Und darunter stand, deutlich lesbar in lateinischen Buchstaben: Für L.F.
Leonard Finney?
Der Wahnsinn streckte seine spinnengliedrigen Finger nach ihm aus. Wie konnte etwas in dem selbst gemauerten Grab einer Wildfremden am anderen Ende der Welt hundert Jahre lang auf ihn warten? Wer war diese Frau?
Die Sinne taub fummelte er an den Lederriemen, die das Bündel verschnürt hielten. Es erwies sich als zu leicht und zu klein, um einen dieser Dolche zu enthalten. Behutsam faltete er das dünne, schon steif gewordene Fell auseinander. Ein Stoß vergilbter Bögen Papier fiel ihm entgegen. Auf dem obersten erkannte er handschriftliche Notizen, in englischer Sprache verfasst, aber in einer altertümlichen Schreibweise. Zwei Gegenstände purzelten heraus, die er im Schummerlicht nicht genau erkennen konnte. Unter den Papieren entdeckte er Fotografien. Er führte den Lichtkreis dicht an die erste, ein Porträt. Am unteren Rand schwungvoll aufgemalt die Worte: Neujahr 1885 . Der Schlag kam unvermittelt. Das Bild zeigte einen Soldaten in der Uniform eines Offiziers der britischen Kolonialarmee. Der Mann, der sie mit sichtbarem Stolz trug, war er selbst!
Leonard sah in einen papierenen Spiegel, der die Vergangenheit reflektierte. Unzweifelhaft. Trüge er selbst in diesem Moment eine solche Uniform, er wäre von dem Soldaten auf der Aufnahme nicht zu unterscheiden. Für L.F.
Sein Verstand gab nach, sackte heraus aus der Realität. Der blanke Irrsinn. Und doch kniete er hier vor einer Fotografie, die seine eigene Existenz bezeugte, aufgenommen Jahrzehnte vor seiner Geburt. Erst ein Aufblitzen im Augenwinkel schubste ihn wieder ins Diesseits. Ein Lichtschein tanzte durch den angrenzenden Raum. Scharren über den Fußboden. Schlurfende Schritte, dumpfes Gemurmel in einer fremden Sprache klang herüber. Sofort löschte er das Licht seiner Taschenlampe. Ein Gedanke, wie er nur in dem hohlen Zimmer eines Irrenhauses fallen konnte, wischte vorüber.
Zwecklos! Die Alte, die die Seelen der Eindringlinge fraß,
Weitere Kostenlose Bücher