Das Auge der Fatima
die kleine Zelle, als der Kerkermeister eintrat, und im selben Augenblick konnte Hassan sehen, weshalb man ihn gerufen hatte. Der Anblick traf ihn derart überraschend, dass ihm der Atem in der Kehle stecken blieb und seine Knie zu zittern anfingen. Wahrlich, der Kerkermeister hatte nicht übertrieben. Dies war der Vorraum zur Hölle.
Die Wände waren bedeckt mit hunderten von Gesichtern, manche groß wie Melonen, andere so klein, dass man sie kaum erkennen konnte. Sie waren verzerrt vor Angst, Wut und Hass, sie lachten irre, schrien vor Schmerz, waren in einer diabolischen Ekstase verzückt oder von ungezählten Narben entstellt. Hassan glaubte fast die Stimmen zu hören, die aus den vermutlich mit Schmutz, Ruß und Blut gezeichneten Mündern kamen. Heisere, kehlige Stimmen, die eher den Stimmen von Tieren glichen. Und dann wurde ihm plötzlich die ganze Dimension dessen, was er sah, klar. Ihm wurde speiübel. Dies waren keine verschiedenen Gesichter. Sie sahen zwar alle unterschiedlich aus, doch das lag allein daran, dass jedes einen anderen Ausdruck hatte, ein anderes Gefühl verkörperte. Letztlich handelte es sich jedoch immer um ein und dasselbe Gesicht - seins.
Hassan schluckte mehrmals, bis die bittere Galle ihren Weg wieder zurück in seinen Magen gefunden hatte.
»Beim Barte des Propheten«, flüsterte er. »Was ...«
»Ich wusste, dass es Euch interessieren würde«, sagte der Kerkermeister. Er stand lässig gegen den Türpfosten gelehnt, mit vor der Brust verschränkten Armen und übereinander geschlagenen Beinen, als hätte er schon schrecklichere Dinge gesehen.
»Erzähle mir alles, was du darüber weißt.«
Der Kerkermeister zuckte mit den Schultern. »Das ist nicht viel. Ich kümmere mich wenig um das Schicksal der Gefangenen, es ist zu anstrengend bei den vielen Neuzugängen und Abgängen, insbesondere hier unten. Hier, im untersten Stockwerk, gibt es nur zwei Arten von Gefangenen - die, die innerhalb kurzer Zeit dem Henker vorgeführt werden, und die, die vergessen werden. Dieser Gefangene war seit über sieben Jahren hier. Ein weitgehend unauffälliger Bursche, hat nie gebrüllt, niemals Ärger gemacht so wie die anderen. Kann mich nicht erinnern, dass ich ihn jemals hätte züchtigen müssen. Er war einer von denen, die hier unten vergessen werden. Trotzdem wurde er, so wie mir einer der Wachen berichtete, in der vergangenen Nacht abgeholt. Doch vielleicht wisst Ihr bereits davon?«
Hassan atmete tief ein. Er musste sich jetzt beherrschen, er durfte sich keine Blöße geben, kein falsches Wort sagen.
»Woher sollte ich das wissen?«
Doch der Kerkermeister ging nicht darauf ein.
»Er kam nicht zurück. Wahrscheinlich hat es ihn erwischt, und sein Kadaver liegt nun in irgendeiner Grube und fault langsam vor sich hin.«
»Oder seine Kumpane haben ihn befreit«, sagte Hassan und versuchte das spöttische Grinsen einfach zu übersehen. Stattdessen konzentrierte er sich schaudernd auf die Zeichnungen. Aus einer Eingebung heraus stieß er das Stroh mit dem Stiefel beiseite - um im nächsten Augenblick vor Entsetzen zurückzuweichen. Tatsächlich, seine Ahnung hatte ihn nicht getäuscht. Auch der Steinboden war mit diesen grauenvollen Zeichnungen bedeckt. »Allah!«
»Ja, der Kerl hat die Zeit, die er hier verbracht hat, ausgiebig genutzt«, sagte der Kerkermeister und warf einen gleichgültigen Blick auf den Boden.
»Bei allen Heiligen Allahs!«, rief Hassan aus. Ihm war vor Abscheu und Ekel übel geworden. »Dieser Mann muss wahnsinnig gewesen sein.«
»Wahnsinnig? Nein, ich denke ...«
»Er muss wahnsinnig gewesen sein«, unterbrach Hassan den Kerkermeister barsch. »Kein gottesfürchtiger Mann würde so etwas tun.«
Der Kerkermeister zuckte erneut mit den Schultern, gefühllos, gleichgültig. Offensichtlich hatte er keine Lust, sich mit Hassan darüber zu streiten, ob Tariq nun verrückt gewesen war oder nicht. Ihm schien das alles hier egal zu sein. Oder er wusste mehr, als er zugeben wollte.
»Was sollen wir damit machen?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf die Zeichnungen.
Hassan dachte kurz nach.
»Nehmt einen Gefangenen aus einer der Zellen hier unten, einen, dessen Hinrichtung unmittelbar bevorsteht. Verbindet ihm die Augen und gebt ihm Wasser und eine Bürste, um die Wände und den Boden sauber zu schrubben. Wenn keine Spuren der Zeichnungen mehr sichtbar sind, räuchert die Zelle aus. Und dann lasst einen Imam kommen, einen getreuen Diener Allahs, der die Zelle mit
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