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Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
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seinen Gebeten reinigt.«
    »Sehr wohl«, sagte der Kerkermeister und deutete eine Verbeugung an. »Euer Wunsch ist mir Befehl.«
    Doch der Spott in seiner Stimme war so deutlich, dass Hassan vor Wut mit den Zähnen knirschte und für einen Augenblick sogar seinen Abscheu und seine abgrundtiefe Angst vor dem Bösen vergaß, dass sich hier über Jahre hinweg in dieser Zelle versteckt gehalten hatte. Wahrlich, vielleicht sollte er den Kerkermeister doch noch angemessen bestrafen. Eine Bitte an seinen Vater, ein kurzer Befehl, und dann konnte dieser unverschämte Kerl die Zellenwände mit verbundenen Augen schrubben ...
    Aber Hassan bezwang seinen Zorn. Allah würde ihm den Tag und die Stunde zeigen, an dem er den Kerkermeister für seine Frechheiten bestrafen konnte. Ohne ihn noch eines Blickes zu würdigen, ging er an ihm vorbei und verließ die Zelle.
    Als er schließlich in seinem Gemach angekommen war, kleidete er sich wieder aus und legte sich auf das Bett. Doch an Schlaf war nicht zu denken. Jedes Mal, wenn er die Augen schloss, sah er wieder die Gesichter vor sich. Sie grinsten ihn an, verhöhnten und verspotteten ihn. Grässliche Schreie gellten aus ihren verzerrten Mündern, und manche von ihnen lachten ihn aus und streckten ihm die Zungen heraus. Irgendwann konnte er diese albtraumhaften Bilder nicht mehr ertragen. Er stand auf und trat zum Fenster.
    Er erinnerte sich an die Geschichten, die ihm seine Amme erzählt hatte. Sie war ein fettes, zahnloses Weib gewesen und so alt, dass sie bereits seinen Vater aufgezogen hatte. Es waren düstere, beängstigende Geschichten von Dämonen und Gespenstern, von den Verlockungen und Fallstricken der Hölle, den Winkelzügen des Teufels und der Bosheit der Menschen. Eine Geschichte war ihm besonders im Gedächtnis geblieben. Gerade in diesem Moment erinnerte er sich so gut daran, dass er wieder fünf Jahre alt zu sein schien. Die Amme saß an seinem Bett. In ihrer schwarzen Kleidung mit den dürren Händen und der scharf gebogenen Nase sah sie aus wie eine Krähe. Das kleine schwache Talglicht warf bizarre, heftig zuckende Schatten an die Wand seines Zimmers. Oft hatte er geglaubt, dass in diesen Schatten die beängstigenden Gestalten aus den Erzählungen der Amme zum Leben erwachten. Und dann hatte sie mit ihrer heiseren, brüchigen Stimme zu erzählen begonnen: »Es gibt Menschen, die stehen mit dem Teufel im Bunde. Sie haben von ihm persönlich die Anweisung bekommen, die Gesichter anderer zu zeichnen. Natürlich weiß jedes Kind, dass der Koran solch einen Frevel verbietet. Allah allein ist der Schöpfer allen Lebens. Aber nur wenige wissen, dass die Seele des Menschen, der gezeichnet wurde, in dem Papier gebannt wird. Sie ist dazu verdammt, für immer und ewig dort zu bleiben. Niemals wird sie den Weg ins Paradies finden. Ein Mensch, der gezeichnet wird, ist für immer verloren. Hüte dich also, Hassan! Hüte dich vor denen, die sich >Künstler< nennen und meinen, sie könnten sich über die Verbote des Korans hinwegsetzen. Hüte dich!«
    Hassan spürte, wie sein Herz klopfte und dieselbe Angst ihm die Kehle zuschnürte, die ihn damals als kleiner Junge nächtelang wach gehalten hatte. »Hüte dich!«, hatte sie gesagt. Er hat sich nicht vorgesehen. Nicht genug jedenfalls. Er hätte Tariq sofort dem Henker übergeben müssen, als er ihn vor Jahren in den Kerker bringen ließ. Er hatte es nicht getan, aus Sentimentalität und der Scheu heraus, jemanden, den er einst als seinen Freund bezeichnet hatte und dessen Familie angesehen war in der Stadt, töten zu lassen. Jetzt musste er für seine Nachlässigkeit und seine törichte Gutmütigkeit teuer bezahlen. Seine Seele war für immer gefesselt, gebannt in hunderten von Zeichnungen, die im Kerker die Wände und den Boden bedeckten. Hatte Tariq deshalb im Angesicht des Todes gelächelt, weil er wusste, dass er Hassan das Schlimmste angetan hatte, das man einem Menschen antun konnte? Dass er ihm für alle Ewigkeit den Zugang zum Paradies verwehrt hatte?
    Er sank auf die Knie, rang seine Hände, raufte sich die Haare und den Bart vor Verzweiflung.
    »Allah, ich flehe Dich an, erhöre Deinen Diener! Sei barmherzig und gib Deinem Diener die Chance, sich reinzuwaschen von den Flecken der Sünde und des Frevels, von dem abscheulichen Gestank der Verfehlung. Lass mich im selben Maße, wie die Striche dieser Zeichnungen von den Wänden der Zelle verschwinden, vor Dir gereinigt sein. Es war nicht meine Schuld. Ich habe ihn nicht

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