Das Auge der Fatima
von Ärzten in allen Städten der Gläubigen. Warum bist du nicht nach Bagdad, Isfahan oder Gazna gegangen? Wieso bist du ausgerechnet zu mir gekommen? Und warum hast du von Verfolgern gesprochen? Bist du etwa mit dem Mädchen auf der Flucht?«
Saddin antwortete nicht sofort. Er sah Ali lange an, ernst und nachdenklich.
So als ob er sich plötzlich nicht mehr sicher wäre, ob er mir vertrauen kann, dachte Ali nicht ohne Bitterkeit. So, als ob er seine Entscheidung, mich um Hilfe zu bitten, noch einmal überdenken müsste.
»Auf welche Frage soll ich dir zuerst eine Antwort geben?«, erwiderte Saddin schließlich und starrte auf den Boden. Seine schlanken, lediglich mit zwei silbernen Ringen geschmückten Hände drehten unablässig den schweren Messingbecher hin und her. »Zuerst möchte ich mich bei dir für mein unerwartetes Erscheinen entschuldigen. Hätte ich die Möglichkeit gehabt, ich hätte dir einen Boten gesandt, um meinen Besuch anzukündigen und dir die Gelegenheit zu geben, einen anderen, einen besseren Zeitpunkt für unser Treffen zu wählen. Aber es ging nicht. Ich hatte keine andere Wahl. Ich musste schnell handeln.« Er blickte auf. »Dieser
Besuch, Ali al-Hussein, ist kein Besuch, wie er unter Geschäftspartnern üblich ist. Und sofern ich eine Möglichkeit gesehen hätte, dich nicht in dieser Angelegenheit zu belästigen, hätte ich diese ergriffen. Glaube mir, ich habe lange darüber nachgedacht, aber es gab keine Alternative. Ich kam zu dir, weil du, Ali al-Hussein, der einzige Mann auf der Welt bist, zu dem ich gehen konnte.«
Ali spürte, wie sich seine Nackenhaare zu sträuben begannen. Etwas in der Stimme des Nomaden verriet ihm, dass dies hier eine überaus ernste Sache war, etwas, bei dem es um mehr als Leben und Tod ging. Falls es so etwas überhaupt gab.
»Sprich«, sagte er und hoffte, dass Saddin seine innere Spannung nicht bemerkte. »Worum geht es?«
»Ich werde weiter ausholen müssen, damit du es verstehst. Es dreht sich in der Tat um das Mädchen, das bei mir ist«, antwortete Saddin. »Ihr Name ist Michelle. Und, um eine deiner zahlreichen Fragen zu beantworten, sie ist nicht meine Tochter. Sie stammt noch nicht einmal aus diesem Teil der Welt. Obwohl sie noch klein ist, ist sie schon weit gereist, sehr weit. Weiter als du oder ich jemals reisen werden.« Er sah an Ali vorbei in die Ferne. »Vor etwa einem Monat fand ich Michelle mitten in der Wüste. Mein Pferd stolperte beinahe über sie. Sie war allein, weit und breit gab es keinen Menschen, keine Spuren, gar nichts. Sie lag einfach dort im Staub und schlief, als hätte ein Engel sie auf seinem Weg durch die Wüste aus seinen Armen verloren. Damit das Mädchen nicht verdurstete oder gar Sklavenhändlern oder einem Raubtier zum Opfer fiel, entschloss ich mich, es mitzunehmen.«
»Die Kleine lag einfach so in der Wüste?«, fragte Ali mit heiserer Stimme. Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er hatte schon einmal eine ähnliche Geschichte gehört. Damals, als der Emir von Buchara eine Sklavin für seinen Harem gekauft hatte, die Sklavenhändler mitten in der Wüste »gefunden« hatten. Ali hatte den Befehl bekommen, sie zu untersuchen. Diese Sklavin war Beatrice gewesen. »Bist du sicher?«
Saddin nickte. »Ja. Ich weiß, woran es dich erinnert. Auch ich musste sofort an ...«, er brach ab und schloss kurz die Augen, »··· an sie denken. Und tatsächlich hat Michelle ebenfalls einen Stein bei sich. Es ist wieder ein Saphir ...«
»Ein Saphir?« Ali sprang erregt auf. »Etwa einer der Steine der Fatima? Du willst also damit sagen, dieses kleine Mädchen ist auch mit einem Stein der Fatima gereist?«
Wieder nickte Saddin, langsam und bedächtig.
»Es ist kein Zweifel möglich. In den vergangenen Jahren habe ich mich überall nach den Steinen der Fatima umgehört. Ich bin zwar kein Gelehrter wie du, und viele Quellen des Wissens stehen mir nicht zur Verfügung, dafür höre ich die Sagen und Legenden der Alten, die Geschichten der Mönche und Wahrsager. Ich weiß mittlerweile, dass diese Steine die Macht haben, ihre Hüter auf seltsame Reisen zu schicken. Und ich weiß auch, woran man einen Stein der Fatima von einem gewöhnlichen Saphir unterscheiden kann. Jener Stein, den Michelle in ihrer Hand hielt, als ich sie weitab von jeder menschlichen Siedlung in der Wüste fand, trug alle Merkmale.« Er machte erneut eine Pause. »Außerdem sind bereits die Häscher auf der Spur des Steins. Allah allein weiß, auf welchen dunklen
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