Das Auge der Fatima
Geräte, den konnte sie nicht einfach vergessen. Das war absurd. Trotzdem hatte sie die ganze Nacht nicht mehr an Michelle gedacht, hatte die Gedanken an den Grund ihrer Anwesenheit in Qum sehr erfolgreich verdrängt.
Statt Mäzen einer jungen arabischen Dichterin zu spielen, solltest du dich wohl besser um das Naheliegende kümmern, dachte sie grimmig und machte sich selbst schwere Vorwürfe. Immerhin ist deine Tochter verschwunden.
Das schlechte Gewissen ließ ein Gefühl in ihrem Magen zurück, als hätte sie gerade einen Klumpen Blei hinuntergeschluckt. War sie etwa eine schlechte Mutter? War sie zu egoistisch gewesen, weil sie weiterhin ihrem Beruf nachgehen wollte? Hatte der Stein ihr das Kind deshalb entführt? Natürlich waren diese Gedanken nichts als blanker Unsinn. Sie war keine schlechte Mutter, nur weil sie ihr eigenes Leben nicht vollständig für das Kind aufgab, weil sie für sich auch noch Wünsche hatte und an ihr Leben Ansprüche stellte. Sie liebte ihre Tochter. Sie sang und tanzte und lachte und spielte mit ihr. Sie hatten Spaß und kuschelten und tobten, bastelten und kochten. Jede freie Minute verbrachten sie gemeinsam. Normalerweise.
Beatrice wurde es schwer ums Herz. Michelle war irgendwo da draußen. Da war sie sich sicher. Aber wie sollte sie die Kleine finden? Und wo sollte sie mit der Suche beginnen? Sie wusste ja noch nicht einmal, ob sie sich im selben Teil der Welt aufhielt wie Michelle, geschweige denn, dass sie davon ausgehen konnte, dass dies auch die richtige Zeit war. Nüchtern betrachtet war das ganze Unternehmen hoffnungslos.
Die Tür hinter ihr öffnete sich.
»Es ist so weit, Herrin«, sagte eine Dienerin schüchtern. »Die Hochzeit wird gleich beginnen, und die Braut wünscht Euch an ihrer Seite.«
Beatrice nickte. »Gut, ich komme«, erwiderte sie und warf noch einmal einen Blick aus dem Fenster. Der See hatte sich nicht verändert. Er lag immer noch so ruhig da wie ein blanker Spiegel. Und doch kam es ihr so vor, als würden die Sterne auf seiner Oberfläche ein Auge formen, ein großes, strahlendes Auge, das voller Güte und Freundlichkeit auf sie gerichtet war. Unwillkürlich straffte sie die Schultern und hob ihr Kinn. Sie weigerte sich, den Kopf hängen zu lassen, jetzt schon, noch bevor sie wirklich mit der Suche nach Michelle begonnen hatte. Das Auge auf dem See war eindeutig ein Zeichen. Und so irreal es auch sein mochte. Zeichen, Omen, Glaube, Hoffnung und Vertrauen waren das Einzige, auf das sie sich in ihrer verzweifelten Lage stützen konnte.
»Michelle«, flüsterte sie und sah vor ihren Augen das kleine hübsche Gesicht ihrer Tochter, umrahmt von seidigen blonden Haaren. »Hab keine Angst. Wo auch immer du bist, ich werde dich finden. Das verspreche ich dir.«
In einer einzigen geschmeidigen Bewegung erhob sich Hassan aus der knienden Haltung und rollte den Gebetsteppich zusammen. Die morgendliche Gebetszeit, der Lobpreis Allahs, war vorüber. Ein neuer Tag wartete auf ihn, ein Tag voller Pflichten und Probleme, die es zu lösen galt. Noch schien niemand Nuraddin, seinen jüngeren Bruder, zu vermissen. Sie waren klug genug gewesen, die Mitbrüder, mit denen Nuraddin fortgezogen war, um der Spur des Nomaden und des kleinen Mädchens zu folgen, als Händler zu tarnen, die angeblich mit dem Ziel Damaskus aus Gazna aufgebrochen waren. Die Reise dorthin konnte unter Umständen Monate dauern. Doch selbst diese Zeit ging nun langsam vorbei, und der Tag rückte unaufhaltsam näher, an dem irgendjemand - einer seiner Brüder, sein Vater, einer der Diener - beginnen würde sich zu fragen, wo Nuraddin so lange blieb und weshalb man keine Nachricht von ihm erhielt. Noch konnte Hassan aufatmen. Noch war es nicht so weit. Sein ältester Bruder bereitete sich gerade auf seine Hochzeit vor, und über die Feierlichkeiten waren alle so aufgeregt, dass alles andere dahinter zurücktrat. Sogar sein Vater, gewöhnlich ein in sich und dem Vertrauen auf Allah ruhender gewissenhafter Mann schien von dem allgemeinen Fieber gepackt worden zu sein. Er vernachlässigte zum Teil sogar seine Pflichten gegenüber seiner Familie und seinem Volk in einer Art und Weise, wie Hassan es nie für möglich gehalten hätte. Nein, zurzeit würde niemand Fragen nach Nuraddin stellen. Doch irgendwann würde der Glanz der Hochzeit verblassen, die junge Braut würde sich eingewöhnt haben, und das Leben in Gazna würde seinen gewohnten Gang gehen. Und dann, da war er sich ganz sicher, würden die
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