Das Auge der Fatima
Ihr Lächeln erstarb. »Aber stattdessen sitze ich Nacht für Nacht unter meiner Bettdecke, zitternd vor Angst, dass das Tintenfass umstürzen und verräterische Flecken auf dem Laken hinterlassen, oder ein Lichtschein durch die Türritzen nach außen dringen und mich verraten könnte. Denn selbstverständlich darf ich nicht schreiben. Ich bin schließlich nur eine Frau. Und Frauen sollen nicht schreiben. Sie sollen auch nicht die Werke der großen Dichter lesen - wundervolle Verse, die demjenigen, der sie liest, Tränen der Sehnsucht in die Augen treiben. Es reicht, wenn Frauen die Verse des Korans kennen.« Sie lachte bitter. »Mein Vater hat mir sogar den Unterricht verweigert. Während meine Brüder von ihm selbst in die köstliche Kunst des Schreibens eingewiesen wurden, musste ich mit meiner Mutter zusammen in der Küche hocken und die Gewänder meiner Brüder mit Stickereien verzieren. Doch ich habe nicht aufgegeben. Abends, wenn alle schliefen, habe ich mir ihre Blätter genommen und anhand ihrer Schreibübungen Buchstaben mit dem Finger auf meine Bettdecke oder in den Sand vor unserem Haus gemalt.«
»Aber glaubst du nicht, dass du auch als Ehefrau immer noch schreiben könntest? Dass Malek vielleicht sogar Verständnis für diese Leidenschaft haben wird?«
Yasmina schnaubte. »Er ist ein Mann. Weshalb sollte er anders sein als mein Vater und meine Brüder? Und wenn ich erst einmal verheiratet bin, habe ich nicht einmal mehr die Stunden der Nacht zur Verfügung. Dann wird nämlich mein Ehemann sein Recht von mir fordern.«
Beatrice wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, denn im Geheimen teilte' sie Yasminas Befürchtungen.
»Hättest du Lust, mir eines deiner Werke vorzulesen? Natürlich nur, falls du nicht zu müde bist, denn immerhin hast du morgen einen langen und anstrengenden Tag vor dir.«
Yasmina fuhr auf und sah Beatrice mit großen Augen an.
»Wirklich? Ist das dein Ernst? Ich soll dir wirklich ...«
»Aber ja. Wenn du magst, ich würde gern eine deiner Geschichten hören.«
»Oh, ich ...«, Yasmina sprang vom Bett auf. »Ich bin gleich wieder da!«
Es waren kaum zwei Minuten vergangen, als die junge Frau schon wieder zurückkam, in den Armen einen riesigen Stapel Papier, den sie aufgeregt auf dem Bett ausbreitete. Sie strich sich ihr langes schwarzes Haar aus dem Gesicht, das vor Freude glühte.
»Ich weiß nur nicht, ob ...«, stammelte sie und sah Beatrice an. In ihren hellen Augen glomm Verzweiflung und Schüchternheit. »Ich möchte deine Ohren nicht beleidigen. Du musst wissen ... nun ja, ich ... du bist der erste Mensch, dem ich von meinen Geschichten und Gedichten erzählt habe. Bislang war es mein Geheimnis. Und daher bist du auch der erste Mensch, dem ich eines meiner Werke vorlese, und ich ...«
»Nur Mut«, sagte Beatrice und lächelte aufmunternd.
»Und du wirst mir bestimmt deine ehrliche Meinung darüber sagen? Ich meine, ich würde mich nämlich gern verbessern, Fehler ausmerzen und ...« Sie wühlte zwischen den Blättern und kaute dabei nervös auf ihrer Unterlippe. »Womit fange ich nur an? Ja, vielleicht dies hier.«
Yasmina nahm ein Blatt in die Hand, auf dem, wie Beatrice im Gegenlicht erkennen konnte, nur einige wenige Zeilen standen. Sie räusperte sich und begann dann mit leiser Stimme zu lesen.
Bereits mit den ersten Worten verließ Beatrice das Zimmer. Sie war draußen am See, der Abend brach an, und die Fischer begannen mit ihren Booten hinauszufahren. Es war in seiner Schlichtheit eines der schönsten Gedichte, das Beatrice jemals gehört hatte. Sie bat Yasmina, noch mehr vorzulesen. Und Yasmina las mit vor Freude geröteten Wangen, bis der erste Lichtstrahl durch das Fenster fiel und sich ein neuer Morgen ankündigte. Erst als die Vögel ihren Morgengesang anstimmten, ließ Yasmina die Blätter sinken und sah hinaus.
»Du darfst auf keinen Fall aufhören zu schreiben, Yasmina«, sagte Beatrice in die Stille hinein. »Allah hat dir eine wundervolle, eine seltene Gabe gegeben. Das ist mehr als ein Geschenk. Es ist geradezu eine Verpflichtung. Deine Gedichte und Geschichten müssen bekannt werden. Die Menschen müssen sie hören. Sie werden sie glücklich machen, sie trösten.«
Yasmina wandte ihr Gesicht wieder Beatrice zu, und sie sah, dass die junge Frau weinte.
»Aber wie, Beatrice? Wie soll ich das tun?« Sie schüttelte verzweifelt den Kopf. »Ich bin doch nur eine Frau.«
»Das bedeutet aber noch lange nicht, dass es keine Wege gibt, die dich zu
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