Das Auge der Fatima
Zeit.«
Beatrice ahnte schon, dass Yasmina sich keineswegs ausgelassen über die bevorstehende Hochzeit freute. Ob sie einen anderen Mann liebte? Aber vielleicht hatte die junge Frau einfach nur Angst. Angst vor den einschneidenden Veränderungen, die ab dem morgigen Tag ihr Leben völlig umkrempeln würden.
»Fürchtest du dich vor morgen?«, erkundigte sie sich und legte Yasmina mitfühlend eine Hand auf den Arm.
»Ja und nein«, antwortete sie und knetete nervös ihre Hände in ihrem Schoß. »Es ist nur, dass ich ... Ich weiß, ich sollte dankbar sein und Allah für die kluge Wahl meines Vaters preisen. Malek ist ebenso jung wie ich. Er stammt aus einer wohlhabenden, angesehenen Familie. Er ist sogar sehr hübsch, das habe ich heimlich von meinem Fenster aus gesehen. Und Gazna ist eine bedeutende Stadt mit Universitäten und Basaren, auf denen man sogar Bücher kaufen kann - ganz anders als Qum. Wahrscheinlich wird es mir bei Malek besser ergehen als den meisten anderen Frauen, die ich kenne. Eine meiner Freundinnen musste zum Beispiel einen Mann heiraten, der mit ihrem Großvater zur Falkenjagd gegangen ist, als beide noch Knaben waren. Aber ...«
»Aber?«, fragte Beatrice sanft. »Du liebst Malek nicht.«
Yasmina sah Beatrice überrascht an.
»Das eben weiß ich ja gar nicht. Woher soll ich wissen, ob ich ihn liebe oder nicht, wenn ich ihn das erste Mal in meinem Leben heute Abend bei einem flüchtigen Blick aus meinem Fenster gesehen habe?« Plötzlich warf sie ihren Kopf in den Nacken und stampfte zornig mit dem Fuß auf. »Warum muss ich überhaupt einen Mann heiraten, den ich mir nicht selbst ausgewählt habe und den ich noch nicht einmal kenne? Das ist ungerecht. Meine Familie muss nicht den Rest ihres Lebens mit ihm teilen, sondern ich!« Sie runzelte die Stirn und starrte mit düsterem Blick auf ihre nackten Füße. »Wie soll ich überhaupt jemals wissen, ob ich Malek wirklich liebe, wenn ich die Liebe nie kennen gelernt habe und er der erste und einzige Mann meines Lebens sein wird? Ich bin wie ein junger Adler, dem die Flügel bereits gestutzt werden, noch bevor er sie das erste Mal ausgebreitet hat, um zu fliegen.«
Beatrice schwieg. Natürlich konnte sie Yasmina verstehen. Sehr gut sogar. Und es lag ihr auf der Zunge, die Worte drängten förmlich aus ihr heraus, die junge Frau in ihrem Wunsch nach Freiheit, nach dem Recht auf Selbstbestimmung zu bestärken. Doch sie hielt den Mund. Sie musste an Jambala denken. Das arme Mädchen hatte sich in Buchara ohne Schleier vor die Augen der Männer getraut und war daraufhin vom Emir so schwer bestraft worden, dass es schließlich an den Folgen der Misshandlungen gestorben war. Vielleicht war sie jetzt feige, da sie Yasmina ihre wahre Meinung verschwieg. Vielleicht war sie aber auch durch ihre Reisen in andere Zeiten und Kulturen klüger geworden. Ihre eigenen Wertvorstellungen, die Errungenschaften des 20. und 21. Jahrhunderts passten nicht in jede Zeit, nicht in jede Gesellschaft. Manchmal waren sie wie ein todbringendes Gift. Ein Gift, an dessen Dosis sich die Menschen ihres eigenen Jahrhunderts bereits gewöhnt hatten und gegen das sie immun waren.
»Nehmen wir mal an, ein Dschinn käme vorbei und würde dir deinen Wunsch erfüllen. Du wärst frei und dürftest tun, was auch immer dein Herz begehrt. Was würdest du mit dieser Freiheit anfangen?«
Yasmina sah auf, ihre Augen begannen zu leuchten.
»Ich würde Qum auf der Stelle verlassen und auf Reisen gehen«, antwortete sie ohne nachzudenken. »Fremde Menschen und Länder sehen und darüber schreiben.«
»Schreiben?«
»Ja. Für mich ist es das Lebenselixier. Ohne zu schreiben - ganz gleich, ob es sich um Gedichte, Liebes- und Abenteuergeschichten oder Märchen handelt - könnte ich vermutlich nicht existieren. Die Geschichten sind überall, ich kann sie überall sehen. Sie hängen wie reife Früchte an den Bäumen, sprießen wie Blumen aus der Erde, sie liegen zwischen den Steinen in der Wüste und den Muscheln am Ufer des Sees und warten nur darauf, aufgehoben und aufgeschrieben zu werden. Sie kommen sogar im Traum zu mir. Und das würde ich tun. Mein ganzes Leben lang. Und vielleicht, irgendwann, wenn er mir wirklich gefiele, würde ich sogar Malek heiraten - und eine neue Geschichte schreiben.« Sie lächelte. »Ich würde nicht mehr heimlich schreiben müssen, nachts, wenn alle anderen schlafen. Ich würde es bei Tage tun, und jeder würde es wissen. Niemand könnte es mir verbieten.«
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