Das Auge der Fatima
Malek, bitte, ich flehe dich an! Sei vernünftig, bevor es uns beiden Leid tut.
Doch es kam ganz anders. Malek schüttelte den Kopf. »Ich werde nicht schlau aus dir, Beatrice. Manchmal wünschte ich ... Gibt es etwas, das wir - mein Vater, meine Brüder und ich - für dich tun können?«
Braver Junge, Yasmina wäre stolz auf dich, dachte Beatrice. In einer amerikanischen Fernsehserie hätte man jetzt bestimmt das Poltern der Steine hören können, die ihr in diesem Augenblick vom Herzen fielen.
»Ja, in der Tat, es gibt etwas.« Sie hob ihren Kopf und sah Malek geradeheraus an. Warum sollte sie sich länger verstecken? Wenn sie Michelle jemals wiederfinden und vor den Klauen der Fanatiker bewahren wollte, musste sie auch etwas dafür tun. Sie musste kämpfen. Noch vor weniger als einer Stunde hatte sie sich vorgenommen, jemanden um Hilfe zu bitten. Und die Hilfe des angesehensten Teppichhändlers der Stadt Gazna und seiner Söhne, die sogar Kontakte bis in den Palast des Emirs unterhielten, war sicher nicht der schlechteste Ausgangspunkt. Außerdem war eines sicher - in diesem angesichts des Zeitalters fast als revolutionär zu bezeichnenden Haushalt verbarg sich ganz gewiss kein Fidawi. »Ich suche meine Tochter.«
»Deine Tochter?« Malek sah sie so ungläubig an, als könnte er nicht begreifen, dass eine Frau wie Beatrice ebenso Kinder bekommen konnte wie jede andere.
»Ja, genau, meine Tochter. Sie wurde vor einiger Zeit entführt. Und vermutlich sind jetzt Fidawi ...«
Sie hatte das Wort kaum ausgesprochen, da packte Malek sie so heftig am Arm, dass sie vor Schmerz aufschrie. Er riss sie mit sich und zog sie schließlich in eine hinter einem Wandteppich verborgene Nische. Dabei sah er sich immer wieder hastig um, als ob er fürchten würde, dass jemand in der Nähe sie belauscht haben könnte.
»Sprich dieses Wort nicht aus«, flüsterte er schließlich. Sein Gesicht war noch bleicher als zuvor, seine Augen weit aufgerissen. Es machte fast den Eindruck, als hätte Beatrice einen Dämon heraufbeschworen. Welche Kraft in diesen harmlosen sechs Buchstaben steckte. »Du darfst es nie wieder erwähnen. Niemals. Nicht auf der Straße und schon gar nicht hier in diesem Haus, hörst du?« Er schnappte mehrmals nach Luft. Und ganz langsam schien er sich wieder zu beruhigen. Nervös strich er sich eine Strähne seines dichten schwarzen Haars aus der Stirn. »Es ist bereits gefährlich, dieses Wort überhaupt zu kennen. Noch gefährlicher ist es jedoch zu wissen, was - oder wer - sich dahinter verbirgt. Wenn das bekannt wird, könnte man dich in den Kerker werfen, dich sogar töten. Und meine Familie ebenfalls.«
»Es tut mir Leid, Malek«, stotterte Beatrice. Sie wusste nicht, was sie mehr erschreckte, Maleks heftige Reaktion oder das Ausmaß der Macht der Fidawi. »Ich wollte dich und deine Familie ganz gewiss nicht in Gefahr bringen. Aber ...«
»Uns in Gefähr bringen? Du?« Malek lachte auf. »Sei getrost, Beatrice, du bringst uns keine Gefahr, die wir nicht schon seit Jahren kennen. Seit unser jetziger Herrscher auf seinem Thron sitzt, ist die Gefahr ein täglicher Gast in diesem Haus. Wir müssen vorsichtig sein und jedes Wort sorgfältig prüfen, das unser Haus verlässt, weil es uns das Leben kosten könnte.« Er schüttelte den Kopf. »Gazna ist nicht mehr die Stadt, die sie einst war. Früher, in den Tagen meines Großvaters, war Gazna eine blühende, eine gastfreundliche Stadt. Aus allen Ländern und allen Völkern kamen die Menschen hierher. Dichtkunst und Musik wurden gepflegt, und die Bibliothek mit den Werken fast aller bekannter Dichter war weit über die Grenzen des Landes der Gläubigen hinaus berühmt. Und heute? Der Herrscher hat Musik verbieten lassen, und die Dichter wurden bis auf wenige Ausnahmen vertrieben. Mein Vater konnte gerade noch eine Hand voll Schriften aus der Bibliothek vor dem Verbrennen retten, heimlich natürlich. Noch immer setzt Subuktakin die Tradition seiner Vorgänger fort und schart Gelehrte und Wissenschaftler um sich. Doch sie müssen sich eingehenden Prüfungen unterziehen. Und erst, wenn sie als rechtschaffene Gläubige gelten und vor dem Thron Gnade gefunden haben, dürfen sie hier in der Stadt bleiben.« Er blickte Beatrice wieder an. »Wie du siehst, ist unsere Lage überaus kompliziert. Jeden Tag steht mindestens ein Mitglied unserer Familie mit einem Bein im
Kerker. Wir haben also für deine Situation Verständnis. Ist deine Tochter in der Gewalt dieser
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