Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge der Fatima

Das Auge der Fatima

Titel: Das Auge der Fatima Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franziska Wulf
Vom Netzwerk:
Du mir anvertraut hast, niemals vollenden können.«
    Ein hohes Sirren wie von einem Pfeil erfüllte die Luft. Im selben Augenblick wich die Erstarrung von ihm, und in einer instinktiven Bewegung warf Hassan sich zur Seite auf den Boden. Kurz darauf gab es einen lauten Aufprall. Metall schabte über den steinernen Boden seines Schlafgemachs, und im flackernden Licht der Talglampe erkannte Hassan, um was es sich handelte. Es war kein Pfeil, abgeschossen in der Absicht, ihn zu ermorden, wie er es anfangs vermutet hatte. Es war ein Wurfhaken. Langsam schob sich das schwere Eisenteil über den Boden zurück zum Fenster, kletterte die Mauer hoch und biss sich schließlich mit zweien seiner drei spitzen gebogenen Haken am Fenstersims fest. Ein paarmal ruckte der Wurfhaken noch, dann spannte sich das Seil. Hassan schloss die Augen, Schwindel packte ihn. War das etwa ... Vorsichtig richtete er sich auf, kroch zum Fenster und spähte über den Sims in die Tiefe. Er konnte die Gestalt nicht erkennen, die langsam am Seil hoch zu seinem Fenster kletterte. In der Dunkelheit war sie kaum mehr als ein schwarzer Fleck auf der hellen Mauer, eine an ihrem Faden hängende Spinne, allerdings monsterhaft groß, ein Fleisch gewordener Albtraum. Sie kam immer näher.
    Hassan zog sich rasch vom Fenster zurück, presste seinen Rücken gegen die Wand und zückte seinen Dolch. Er atmete ruhig und gleichmäßig. Vielleicht war es Osman, sein Freund. Er hoffte es von ganzem Herzen. Doch es konnte ebenso gut ein Feind sein, der ihre Nachrichten abgefangen hatte und ihm nun eine Falle stellen wollte. Nicht allein Saddin, dieser verfluchte Nomade, und seine jüdischen Kumpane wollten ihm und den Brüdern an den Kragen. Gottlose Frevler gab es überall. Er war auf alles vorbereitet.
    »Die Taube fliegt zum Berg«, sagte jemand leise, und im selben Moment schob sich eine Hand in einem schwarzen Handschuh vorsichtig über den Sims.
    »Und kehrt mit einem Ölzweig wieder zurück«, entgegnete Hassan. Erleichterung und Dankbarkeit ließen seine Knie weich werden. Diese Stimme kannte er besser als jeder andere auf dieser Welt. Doch der Moment der Schwäche ging ebenso schnell vorüber, wie er gekommen war. Er steckte den Dolch wieder an seinen Gürtel und griff nach der anderen Hand des Mannes. Geschickt zog sich dieser vollständig hoch und landete mit einem geschmeidigen Sprung in Hassans Schlafgemach. Einen Augenblick standen sich die beiden Männer schweigend gegenüber. Dann, als hätten sie sich ein geheimes Zeichen gegeben, gingen sie gleichzeitig aufeinander zu und umarmten sich.
    »Allah ist groß, Sein Name sei gepriesen«, sagte Hassan, während er seinen Freund rechts und links auf die Wange küsste. »Du bist unversehrt, Allah hat meine Gebete erhört. Doch weshalb kommst du so spät, Osman? Wer oder was hat dich aufgehalten? Und weshalb hast du mir keine Nachricht geschickt?«
    »Das ist eine lange Geschichte«, antwortete Osman. Trotz des schwachen Lichts konnte Hassan deutlich erkennen, wie erschöpft sein Freund aussah. Sein schmales Gesicht war bleich, dunkle Schatten umrandeten seine Augen, und Sorgen hatten tiefe Falten um seinen Mund und seine Nasenflügel gegraben. Sein buschiger dunkler Bart wirkte ungepflegt, beinahe schon verfilzt. Und seine Kleidung war schmutzig, so als hätte er seit vielen Tagen keine Gelegenheit gehabt, sie zu wechseln. Das konnte nur eines bedeuten. Hassan atmete tief ein und bereitete sich auf schlechte Nachrichten vor.
    »Setz dich, Osman«, sagte er und zeigte auf die Sitzpolster, die in einer Ecke seines Gemachs lagen. »Und dann erzähle.«
    Nicht im Traum wäre ihm eingefallen, dem erschöpften Freund etwas zu essen oder zu trinken anzubieten. So wie er selbst hätte auch Osman das als Beleidigung empfunden. Ihre Körper waren an Fasten und jede Art von Entbehrungen gewöhnt. Und niemals und unter gar keinen Umständen hätte einer von ihnen die Bedürfnisse des Fleisches vor die wirklich wichtigen Dinge gestellt. Der Dienst für Allah hatte Vorrang. Das galt immer. Und ohne Ausnahme.
    »Du hast Recht, Hassan, ich wurde aufgehalten. Wie ich es ursprünglich geplant hatte, bin ich kurz nachdem ich dir die Nachricht gesandt hatte, aus Alamut aufgebrochen. Ich hatte bereits die Hälfte des Weges zurückgelegt, als mich zwei unserer Brüder in der Wüste einholten und mich dringend baten, umzukehren.« Wie es seine Gewohnheit war, verzichtete Osman auch diesmal auf jede höfliche Floskel und Einleitung

Weitere Kostenlose Bücher