Das Auge der Seherin
saßen unweit des Feldes auf einem Felsbrocken und sahen den Jungen zu, die abwechselnd auf eine dreißig Meter entfernte, runde Zielscheibe
schossen.
Ängstlich beobachtete Torina, wie Landen seinen Platz einnahm. Er sah noch genauso zerschunden aus wie bei seiner Ankunft. Ihr schien sogar, als entdecke sie frische Wunden an seinen Armen und in seinem Gesicht. Als er in den Schießstand trat, trafen ihn die höhnischen Rufe der anderen. Niemand ergriff Partei für ihn. Jeder Junge hatte vier Versuche. Als Landen den Bogen hob und die Sehne spannte, rief Torina laut: „Schieß genau in die Mitte!"
Landen warf ihr einen Blick zu und schoss seinen Pfeil ab. Er flog weit daneben, streifte höchstens den äußeren Rand der Zielscheibe. Unterdrücktes Gelächter kam auf, während er den zweiten Pfeil anlegte. Geschwind spannte er den Bogen, schoss und traf genau ins Schwarze. Das Gelächter erstarb, als Landen mit noch zwei weiteren Pfeilen im Schwarzen landete. Ein paar Jungen grinsten anerkennend, die meisten aber starrten ihn nur mit offenem Mund an. Torina lächelte in Landens Richtung, der aber mied ihren Blick und verzog sich zum Feldrand.
Wenigstens in einer Kriegskunst hatte Veldon seinen Sohn unterrichten lassen.
Nun schossen die anderen Jungen, manche überboten Landen, weil sein erster Pfeil daneben gegangen war, doch nur Beron erwies sich als besserer Schütze. Als alle Pfeile abgeschossen waren, ordnete Emid gewöhnliches Zielschießen an. Die Jungen stellten sich in Sechserreihen vor strohgepolsterten Zielscheiben auf. Vom Schlosshof aus hatte Torina schon oft beim Bogenschießen zugesehen, aber noch nie war sie so nahe gewesen.
Rasch lief sie zu Emid.
„Emid, ich möchte auch Bogenschießen lernen."
Emid fing Ancillas Blick auf. Die alte Königin zuckte die
Achseln.
„Zeon, gib der Prinzessin deinen Bogen. Du hast heute gut geschossen. Zeig ihr, wie man den Bogen spannt." Zeon platzte beinahe vor Stolz, als er alles erklären durfte. Torina nahm einen Bogen in die Hand. Er fühlte sich fremd an und die Sehne war viel zu hart gespannt für sie. Der Pfeil landete einen halben Meter links der Zielscheibe. Bedächtig nahm sie einen zweiten Pfeil, und wieder flog er weit am Ziel vorbei, diesmal auf der anderen Seite. Als sie den nächsten Pfeil aufnahm, wurde ihr der Bogen aus der Hand genommen. Sie drehte
sich um und sah in das gerötete Gesicht ihres Vaters. Seine grünen Augen blitzten zornig. „Papa", sagte sie stockend.
„Der Übungsplatz ist nichts für eine Prinzessin." Sie wollte ihm sagen, dass sie ebenso gut würde schießen können wie jeder von ihnen, wenn er sie nur üben ließe. Am liebsten hätte sie laut herausgeschrien, gerade wegen Männern wie ihm müsse sie doch lernen, ihr Königreich zu verteidigen.
„Verlass sofort diesen Platz." Sein Ton duldete keine Widerrede.
Sie fasste Ancillas Hand. Sie nahmen den Weg über die Wiesen und spazierten zu einem Flecken mit wild wachsenden Blumen. Dort, inmitten bunter, duftender Blüten, warf sich das Mädchen ins Gras. „Ich möchte Bogenschießen lernen!", brach es aus ihr heraus.
Ancilla ließ sich vorsichtig nieder.
„Meine kleine Torina", sagte sie, „Krieger wird es immer geben. Sei froh, dass du nicht einer von ihnen sein musst."
Torina zog die Nase hoch. „Wie soll ich mein Königreich verteidigen, wenn ich nicht zu kämpfen weiß?" Ancilla seufzte. „Du weißt, dass ich sehr alt bin, mein Liebling?" „Ich weiß."
„Und was habe ich in meinem langen Leben gelernt? Dass es immer genug Männer gibt, die töten. Überlass
das Töten ihnen. Und wenn du etwas Gutes findest, sorge dafür, dass es wächst."
Torina langte nach einer Blume und strich zart mit den Fingern darüber. Sie neigte ihr Gesicht dem schönen, zerbrechlichen Gebilde zu.
„Könnte ich die Blumen doch mit nach Hause nehmen und sie dort wachsen lassen. Aber sie brauchen mich nicht."
Die Großmutter lächelte. „Wenn in einigen Wochen die Samen herausfallen, sammeln wir ein paar davon ein. Dann wirst du einen Blumengarten haben." „Großmutter, wenn ich ein Junge wäre, würde ich kämpfen lernen, um mein Königreich zu schützen. Wahrscheinlich glauben sie, ein anderer wird es einmal regieren."
„Natürlich glauben sie das. Der Mann, den du einmal heiratest."
Torina neigte sich wieder über die Blumen und dachte an ihre Mutter. Dreea ging immer ihrer stillen Beschäftigung nach und schien selten den Wunsch zu verspüren, etwas verändern zu
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