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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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wollen. Torina versuchte sich ein solches Leben vorzustellen. Sie sah sich an der Stelle ihrer Mutter, die geduldig am Webstuhl saß und auf ihren König wartete. Sie begriff, so würde sie niemals leben können.
    Das große Abschlussturnier rückte heran. Die Wettkämpfe - Bogenschießen, Messerwerfen, Faustkampf - sollten mehrere Tage dauern. Die Bewohner von Archeld würden in Scharen kommen, um zuzuschauen, zu feiern, sich zu vergnügen und ihren Favoriten zuzujubeln.
    Landen schämte sich bei der Vorstellung, in aller Öffentlichkeit erniedrigt zu werden. Nicht einmal mit den Kleinsten konnte er im Faustkampf mithalten. Das widersprach allem, was er als Kind gelernt hatte. Er hatte gelernt, mitfühlend und bedachtsam zu sein und jedem eine Chance zu geben. Und obgleich er gewillt war, mit alten Gewohnheiten zu brechen, schoss ihm jedes Mal der Leitsatz seiner Kindheit durch den Kopf: Füge niemandem Schaden zu, wenn er einem Gegner gegenüber stand. Er wusste nicht die Lanze zu führen. Dagegen hatte er gelernt, kunstvoll zu fechten und anmutig das Florett zu führen. In Archeld schlugen die Jungen mit groben Holzschwertern aufeinander ein. Nie hatte man ihn gelehrt, ein Messer zu werfen. Obgleich er gewöhnlich ziemlich flink war, fühlte er sich durch seine Gefangenschaft gehemmt. Mit Pferden konnte er so gut umgehen wie die anderen, aber ihn verwirrte die in Archeld übliche Art des Reitens.
    Eines Nachmittags, als die anderen Jungen ruhten oder Hausarbeiten erledigen mussten, machte er sich auf die Suche nach Emid. Er ging den mittlerweile vertrauten Pfad vom Haus zum Übungsfeld und genoss die tanzenden Schatten der Zweige.
    Als er aufs Übungsfeld in die gleißende Sonne hinaustrat, entdeckte er Emid. Er war allein und steckte frische Federn auf die Pfeile. Das finstere Gesicht des Ausbilders wirkte abweisend. Landen kannte inzwischen seine mürrische Art, sein Gebrüll jagte jedem Jungen Angst ein. Aber er war gerecht. Manchmal glaubte Landen sogar, dass dieser strenge Mann, der beharrlich daran arbeitete, die Furcht einflößende Kriegerschar von Archeld auszubilden, ihn mochte.
    Trotzdem atmete er jetzt vorsichtiger, als er auf ihn zuging, denn er erinnerte sich der Worte seines Vaters, der gesagt hatte: Der Augenblick ist unendlich. „Was gibt's", fragte Emid und prüfte fachmännisch eine Feder.
    „Ich wollte Euch fragen, ob ich von der Kampfprüfung befreit werden kann."
    Emid schaute noch finsterer als sonst. „Warum?" „Ich habe nie gelernt zu kämpfen."
    Emid funkelte ihn zornig an. „Jeder Mann muss Kämpfen lernen."
    „Das ist wahr", pflichtete ihm Landen bei, „ich möchte es lernen und ich werde es auch lernen. Aber wie Ihr wisst, hat man mir das früher nicht beigebracht, nur Bogenschießen, Fechten und Reiten. Aber immer nur im Spiel, niemals, um einen anderen ernsthaft zu besiegen."
    Emid seufzte, sein Gesicht wurde milder. Junger Mann, über die Jahre sind viele Jungen mit so einer Bitte zu mir gekommen. Ich habe sie keinem gewährt."
    Er schien auf eine Antwort zu warten. Landen jedoch sah ihn nur stumm an.
    „Ich schlage vor, du suchst dir jemand, der mit dir üben möchte. Du kannst die Übungswaffen jederzeit benutzen. Aber am Turnier musst du teilnehmen." Landens Vater und seine Lehrer hatten die gute Menschenkenntnis des Jungen immer hoch geschätzt. Schon nach dem ersten Eindruck konnte er einen Menschen richtig beurteilen. Diesmal genügte ein kurzer Blick auf das Gesicht des Ausbilders, um zu erkennen, dass weiteres Argumentieren nichts half.
    jemand, der mit dir üben möchte. Landen dachte an seine Kameraden. Sie waren ihm alle zu jung, zu feindselig oder zu gleichgültig. Jawohl", antwortete er.
    Bei der Schlafbaracke tummelte sich wie üblich eine Schar von Jungen. Landens Magen zog sich zusammen. Es war Beron mit seinen Anhängern, ungefähr fünf Burschen, die immer zusammensteckten. Landen hätte umdrehen, durch den Wald gehen und den vorderen Weg nehmen können, aber er wusste, dass sie ihn gesehen hatten. Er gab sich Mühe mit ruhigen Schritten weiterzugehen und eine gleichgültige Miene aufzusetzen. Als er näher kam, rückten sie vor.
    ,Aha, der Bellalander." Das war Berons Spitzname für ihn, einer Abwandlung des Wortes für feiger Weichling aus der Sprache Archelds und eine spöttische Anspielung auf sein Herkunftsland. Landen ließ sich nichts anmerken und ging ruhig weiter. Sie traten ihm in den Weg und umringten ihn. „Was musstest du denn Wichtiges mit

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