Das Auge der Seherin
dem großen, kunstvoll geschnitzten Bett ihrer Ahnen. Die Königsmutter war sofort hellwach, als Torina sie berührte. Gemeinsam gingen sie zu der kleinen Kammer, wo Landen schlief. Sobald der Junge sich rührte, schickte Ancilla die Dienerin fort. Landen streckte sich vorsichtig und blickte sie aus großen, fragenden Augen an.
„Ich habe Euren Vater gekannt", sagte Ancilla, „vor langer Zeit. Er war ein edler Mann, wie es besser keinen gab."
Landen sah zu Boden, seine Hände zitterten. „Kommt, junger Mann. Um einen edlen Mann zu trauern, der zu früh sterben musste, ist keine Schande." Landen warf ihr einen kurzen, prüfenden Blick zu. Sie setzte sich zu ihm und sprach:
„Ich bin Ancilla, die Mutter des Königs. In diesem Haus spreche ich, wie es mir gefällt, doch ich hüte mich, jedem meine Meinung zu sagen. Ihr habt Euren Vater verloren und Euer Land und nun seid Ihr hier. Es wird nicht leicht für Euch werden - für lange Zeit. Doch denkt daran, Ihr könnt trotzdem der Sohn sein, auf den Euer Vater stolz gewesen wäre." Landen schwieg, seine Schultern entspannten sich.
„Meine Enkelin, Prinzessin Torina, habt Ihr bereits kennen gelernt. Wir bringen Euch jetzt zur Baracke. Dort werdet Ihr leben, bis Ihr zum Mann gereift seid. Und jetzt helft mir auf. Ich zeige Euch, wo Ihr Wasser lassen könnt."
Fasziniert beobachtete Torina, wie Landen sich mit selbstverständlicher Anmut erhob, sich zu Ancilla hinabbeugte und sie vorsichtig hochhob. Ehrfürchtig dachte sie daran, dass der Junge als Prinz eines sagenumwobenen Reiches erzogen worden war. Vor noch nicht langer Zeit, eben bevor ihr Vater Bellandra erobert hatte, war Landen dazu bestimmt gewesen König werden, König von Bellandra.
Torina hatte, wie jedermann in Archeld, Geschichten über das geheimnisumwobene Land gehört. Ihre Mutter war dort gewesen. Dreea war eine Freundin von Königin Anise gewesen. Nach deren Tod hatte Dreea Kerzen für sie entzündet. Dreea erzählte, die Menschen in Bellandra arbeiteten das, was sie am liebsten täten, die Kinder seien in bunten Farben gekleidet, jedes Gebäude ein architektonisches Wunderwerk, der Himmel mit Regenbögen überspannt, ob es geregnet habe oder nicht, und Kriege gäbe es dort keine. Keine Kriege.
Torina war beigebracht worden, stolz auf die vielen Siege des Vaters zu sein. Doch jetzt schämte sie sich, als sie das geschundene Gesicht des Sohnes eines Ermordeten sah. Ihr Vater hätte Bellandra nicht angreifen dürfen.
Warum hatte er das getan? Er musste doch gute Gründe dafür gehabt haben? Und wenn nicht? Wenn König Kareed nur um des Kampfes willen in die Schlacht gezogen war? Wenn er den edlen Mann - und edel war er gewiss gewesen, sonst hätte die Großmutter es nicht gesagt - getötet hatte nur um sein Königreich zu bekommen?
Am liebsten hätte Torina sich zusammengekauert und sich nie mehr gerührt. Ancillas Blick umfing sie zärtlich und das bange Gefühl in ihrem Bauch ließ nach.
Draußen lag die Welt unter einem Hauch glitzernden Taus. Ein ungleiches Trio bewegte sich hinter dem Schloss übers Land, die aufrechte Gestalt der alten Königin, kaum größer als die neunjährige Enkelin und der junge Gefangene, der misstrauisch um sich blickte wie ein unzähmbares Tier, das die Schlinge um seinen Hals spürt.
Von den Bäumen tropfte der Tau und die goldenen Strahlen der jungen Sonne schossen hier und dort durch die Zweige bis tief ins Unterholz. Torina war neugierig, endlich einmal die Baracken von innen zu sehen. Nach einem Fußmarsch von einer Viertelstunde kam ein großes Holzhaus von schlichter, gedrungener Bauweise in ihr Sichtfeld.
Als sie zum Eingang kamen, drangen Jungenstimmen zu ihnen heraus. Ancilla klopfte energisch an und die Tür wurde von Eric, einem hochgewachsenen jungen Mann, geöffnet. Einen Augenblick lang stand er bewegungslos da und blinzelte verwirrt. Eifrig gab Torina ihre Anweisungen.
„Eric, ruft bitte den Ausbilder herbei." Eric verschwand im Innern der Baracke. Die anderen Jungen scharten sich im Eingang und die jüngeren unter ihnen glotzten mit unverhohlener Neugier. Kurz darauf erschien Emid, der Ausbilder. Seit sie denken konnte, hatte Torina Emid fast täglich auf dem Übungsplatz gesehen. Seine strenge Miene und befehlende Haltung konnten sie nicht einschüchtern, denn sie wusste, dass er zu ihrem Schutz da war. „Ihr habt mich rufen lassen, Königin?", fragte er und reckte seine breiten Schultern.
„Emid, der König hat entschieden, diesen Jungen
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