Das Auge der Seherin
schwindelte. Weinend wankte sie auf den schlafenden Mann zu. Augenblicklich erwachte er und war an ihrer Seite. Seine Arme umfingen und stützten sie. Sie wurde von Weinkrämpfen geschüttelt und jahrelang zurückgehaltene Tränen strömten über ihre Wangen.
Der Mann nahm die Maske ab und offenbarte ihr sein ernstes, so vertrautes Gesicht. „Landen", flüsterte sie.
„Prinzessin", sagte er heiser. Seine Stimme zitterte. „Du." Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und streichelte es. Sie wusste nicht, was sie tat, und nahm kaum wahr, dass er dasselbe tat wie sie. Auf ihrer tränennassen Haut fühlten sich seine Hände warm und trocken an. Sie ließ die Hände sinken. „Aber - ich verstehe nicht..." Er fasste sie an den Schultern. „Verzeih mir den Schlag. Er war notwendig." „Warum?"
„Damit die anderen Attentäter denken, ich sei zuerst da gewesen."
Sie schaute sich um, dann sah sie zum Himmel hinauf. Es war Nacht. Träumte sie?
„Die anderen Attentäter? Bist du einer von ihnen?"
„Nein. Aber das sollen sie denken."
„Warte." Sie schob ihn von sich und sah ihm ins Gesicht.
„Ich soll getötet werden?"
Ja, Torina, du bist zum Tod verurteilt."
„Zum Tod? Wer schickt dich?"
„Der Oberkönig."
Benommen schüttelte sie den Kopf. „Dahmis hat dich
beauftragt mich zu töten?"
„Nein. Ich soll dich in Sicherheit bringen."
„Dann kennt der Oberkönig unsere Geschichte?" Ihr
schwindelte bei dem Gedanken.
Tränen standen in seinen Augen. „Nein. Torina, ich dachte, du seist tot."
Traurig sah sie ihn an. „Und ich wusste nichts von dir." Er beugte sich vor. „Nichts?"
„Meine Kristallkugel hat mir nie dein Gesicht gezeigt. Immer habe ich danach gesucht, Landen. Jeden Tag habe ich nach ..." Ihre Kehle war wie zugeschnürt, als sie an ihre lange, vergebliche Suche dachte. „Prinzessin, wenn ich ... Torina, meine ..." Er schluckte. „Komm, wir müssen weiter."
Er hob sie in den Sattel und schwang sich vor sie hinauf. „Halte dich fest."
Sie legte die Arme um ihn und hatte das Gefühl, nie etwas Schöneres getan zu haben. Sie ritten weiter bergan durch die Nacht. Sie lehnte ihren Kopf an seinen Rücken und netzte sein Hemd mit Tränen des Friedens.
Landen betrachtete immer wieder staunend Torinas schlanke Finger und Arme, die sie um seinen Leib geschlungen hatte. Bei Tagesanbruch erreichten sie ein geschütztes Hochtal. Es lag so abseits, dass man es nur durch Zufall hätte finden können, wenn man es nicht bereits kannte.
Die Müdigkeit verlangte ihr Recht. Bis auf den kurzen Schlummer im Wald in der vergangenen Nacht hatte er viele Tage und Nächte nicht mehr geschlafen und sehnte sich nach Ruhe. Seinem armen, erschöpften Pferd erging es nicht besser. Erleichtert machte Landen Halt und half Torina herab.
Hier hatte er sich einmal eine einfache Hütte gebaut, die ihm als Zufluchtsort in Desante dienen sollte. Jetzt kam sie ihm vor wie ein Palast.
Er führte das Pferd an eine nahe Quelle und rieb es ab. Torina folgte ihm und half ihm, den Hengst zu versorgen.
Er beobachtete ihre schnellen, geübten Bewegungen und hätte am liebsten geweint vor Dankbarkeit, dass sie in Sicherheit war, dass sie lebte.
Das Pferd legte sich nieder und Torina beugte sich über die Quelle und trank gierig. Landen kniete neben sie
und benetzte sich das Gesicht mit dem belebenden Wasser.
Sie hat wegen mir geweint, letzte Nacht. Was empfindet sie heute?
„Wollen wir hineingehen?", fragte er. Sie folgte ihm in die Hütte.
Die Einrichtung bestand lediglich aus ein paar einfachen Stühlen und einem Bett. Landen setzte sich auf das Bett und zog sich die Stiefel aus. „Danke", sagte sie.
Er streckte die Hand nach ihr aus. „Setzt du dich neben mich?"
Zögernd nahm sie neben ihm Platz. „Lass mich dich ansehen." Er zupfte an ihrem grauen Tuch. „Dahmis riet mir, das Tuch herunterzuziehen, um dich zu erkennen. Als er das sagte - da wusste ich, dass du es bist, dass du nicht tot bist."
Er fragte sich, welche Spuren die Jahre auf seinem Gesicht hinterlassen hatten, und suchte in ihrem Gesicht nach Veränderungen. Ihre Augen waren von demselben blau glänzenden Grün, doch wo einst schelmische Freude gefunkelt hatte, war jetzt Traurigkeit, tief wie der Ozean. Ihre Wangen waren schmaler geworden. Und da war noch etwas. Die stolze Überheblichkeit der Prinzessin war verschwunden. Doch das Geheimnisvolle, Unzähmbare ihres Wesens war ihr geblieben. Ja, es war Torina. Innige Liebe strömte durch sein Herz.
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