Das Auge der Seherin
Dicke Tränen tropften aus ihren Augen.
„Was hast du?"
„Ich schäme mich so. Kannst du mir jemals verzeihen?" „Dir verzeihen, Prinzessin?"
„Landen, ich war so dumm. Ich wage kaum, daran zu denken, wie dumm ich war. Gedankenlos, überheblich, verwöhnt!"
Er nahm ihre Hände und küsste sie. „Bitte, Torina. Du musst nicht weinen, weil ich dir verzeihen soll." „Landen, dein Herz ist so weise. Als du alles verloren hattest, machtest du einen neuen Anfang. Ich dagegen habe mich so tief vergraben, ich hätte genauso gut tot sein können."
„Nach dem, was der Oberkönig mir erzählt hat, war das aber nicht so." Er schlang die Arme um sie. Sie zu halten fühlte sich so wunderbar und selbstverständlich an. Endlich konnte Landen Körper und Seele fallen lassen. Der Schlaf übermannte ihn so schnell, dass er nicht einmal mehr bemerkte, wie sich ihr Gesicht bei der Erwähnung des Oberkönigs schuldbewusst verzog.
11. Kapitel
Über und über mit Dreck bespritzt ritt Beron im Schlosshof von Archeld ein. Verächtlich registrierte er
den dienstfertigen Eifer der wachhabenden Soldaten.
Natürlich behandelten sie ihn mit Ehrfurcht. Er war ein wichtiger Mann für König Vesputo.
Die Bediensteten wichen zur Seite, als er zum König ging. Der König erhob sich und begrüßte ihn mit einem festen Händedruck. Kaum waren sie allein, sprudelte
Beron die Neuigkeit heraus.
„Sie ist mit Sicherheit tot, mein König."
„Durch deine Hand?"
„Nein, Herr. Aber als ich bei ihrer Hütte ankam, erzählten mir die Leute, erst eine Stunde zuvor habe ein maskierter Mann sie niedergeschlagen und sei mit ihr auf und davon geritten."
„Davongeritten! Hast du ihre Hütte durchsucht? Hast du den Kristall gefunden?"
„Ich habe überall gesucht, alles auf den Kopf gestellt. Sie hatte gepackt, um zu verreisen. Ich habe alles durchsucht, viel war es nicht. Der Kristall war nirgends zu finden."
Vesputo schlug fluchend die Faust auf den Tisch. „Hast du den Reiter verfolgt?"
„Ich - nein, Herr. Ich habe die ganze Zeit ihre Hütte durchsucht und dann war es dunkel. Niemand wusste, wohin er geritten war. Die Bauersleute waren zu Tode erschrocken und wollten wissen, was sie getan habe und wer sie sei."
„Du hast nichts verraten?"
„Nein, Herr. Torina ist seit Jahren tot und begraben, jetzt erst recht."
„Hm. Du bist so schnell wie möglich geritten?" ,Ja, Herr. Ich habe kaum Rast gemacht." „Seltsam, dass jemand vor dir da war. Ich dachte, König Dahmis sei der Einzige, der wusste, wo sie wohnte." „Vielleicht hatten auch andere schon ihre Spur aufgenommen und hatten vom Oberkönig genauere Hinweise bekommen."
„Vielleicht. Aber wer hat diesen Stein? König Dahmis bestimmt nicht. Dieser Narr würde niemals sein Wort brechen. Er hat geschworen, sie nicht zu warnen." Vesputo ging auf und ab, seine markanten Gesichtszüge waren beherrscht und verschlossen. Beron wollte sich die erschöpften Augen reiben, ließ es aber lieber bleiben.
Jetzt, wo sie tot ist, mein Herr ..."
„Wenn sie wirklich tot ist, hat Dahmis sich selbst ins Verderben gestürzt. Keiner mehr, der ihn warnen könnte. Er hatte ungewöhnliches Glück, dass er den Angriff der
Sliviiter abwehren konnte. Doch diesmal wird er weniger Glück haben, es gibt niemanden mehr, der ihn warnt."
Torina schöpfte Wasser mit der Hand. Der Tag war klar und frisch wie eine knospende Blüte und ihre Seele war wie geläutert. Sie schmeckte die Reinheit der Natur. Über ihr ragten die mächtigen Tannen zum tiefblauen Himmel auf, die Erde war übersät von bunten Wildblumen.
Sie hätte die ganze Welt umarmen mögen. Wie wunderbar, wieder sie selbst sein zu dürfen, eine junge Frau mit Namen Torina, die ihr Haar offen tragen durfte. Das Zusammensein mit Landen in den vergangenen Tagen verlieh ihr das Gefühl, aus einer Welt bitterer Mühsal an einen Ort der Unschuld und Erneuerung getragen worden zu sein. Sie gingen spazieren, sprachen miteinander und atmeten den würzigen Duft des Waldes ein.
Ihre alte Vertrautheit lebte wieder auf. Manchmal fühlten sie sich an die geheimen Orte ihrer Kindheit zurückversetzt. Die unbeschwerte Nähe früherer Tage verlieh ihnen Halt und half ihnen, die Gegenwart zu begreifen.
Er erzählte ihr von seiner Rolle als Bellanes und wie er im Auftrag von Dahmis nach Archeld gereist war, immer in dem Glauben sie sei tot. Sie berichtete von ihrer Flucht und den Jahren, in denen sie vor Unruhe und Einsamkeit fast wahnsinnig geworden war.
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