Das Auge der Seherin
erwachte und nach seinen Kleidern griff, war seine spärliche Garderobe vollständig da. Er musste keine Zeit damit verbringen nach verlegten Kleidern oder Schuhen zu suchen. Beruhigt ging er zum Speisesaal. Beron stand großspurig auf und setzte sich mit Getue neben Landen.
„Nicht hungrig heute, Bella?", höhnte er und schob Landens Schale zu sich herüber.
Landen zuckte die Achseln und wollte sich schon damit abfinden, auf die Mahlzeit verzichten zu müssen, als Erics Arm hervorschoss und Landens Schale wieder in ihre ursprüngliche Position brachte. „Halt du dich da raus", sagte Beron gereizt. „Nein. Du hältst dich da raus. Und zwar endgültig." Erics verächtliche Stimme tönte durch den Raum. Wütend stieß Beron seine Schale gegen Eric. Dieser bremste sie geschwind mit der Hand ab. „Danke", sagte er ruhig. „Du hast noch keinen Bissen gegessen. Dann ist es ja noch genießbar." Er versenkte seinen Löffel im Essen des anderen.
Beron stand auf und hob mit seinen kräftigen Händen die Kante des langen Tisches an. Der Tisch kam in Schräglage und sämtliche Schalen rutschen in Richtung Fußboden. Doch da war Eric auch schon aufgesprungen, warf sich mit seinen starken Armen auf den Tisch und verhinderten so das weitere Abrutschen der Schalen. Nun stürzte Beron sich über den Tisch. Die Jungen im Raum fingen an zu johlen, da packte Eric Beron an den Haaren, riss seinen Kopf zurück und versetzte ihm einen Schlag in den Magen. Beron krümmte sich zusammen. Eric ließ seine Faust auf seinem Kopf niedersausen.
Die Jungen bildeten einen Kreis um die beiden und stachelten die Gegner mit Johlen und Schreien an. Landen hielt sich abseits. Er war überrascht, wie viele Stimmen Eric unterstützten.
Die beiden Kämpfenden fielen übereinander her und brachen sämtliche Regeln für den Faustkampf. Sie zielten auf die Augen, bissen und schlugen unterhalb der Gürtellinie. Aus Angst, sie könnten sich gegenseitig umbringen, kämpfte Landen sich zu ihnen vor, um seinen Freund zu unterstützen.
Die Tür wurde aufgerissen, Emid kam herein und brüllte mit mächtiger Stimme. Im Nu hatte er Eric und Beron getrennt, die sich wütend anblitzten. Der Kampf zeigte die ersten Spuren auf ihren Gesichtern. Berons Lippen waren geschwollen und Erics linkes Auge verfärbte sich lilarot. Die anderen Jungen standen schweigend um sie herum, als hätte es ihnen die Sprache verschlagen.
„Was soll das?", fragte Emid zornig. „Ich habe euch oft genug gesagt, ihr dient beide Archeld. Das bedeutet, ihr dürft kämpfen, doch nur, um Euer Können als Soldaten zu schulen! Diese Sorte Kämpfe dulde ich nicht unter Kameraden!" Sein Brüllen war Furcht erregend. „Und nun kommt mit."
Die beiden jungen Männer mussten den Speisesaal verlassen. Die anderen Jungen kehrten geschwind an ihre Plätze zurück. Landen wusste, dass die beiden Streithähne nichts essen dürfen, bis sie die ihnen auferlegte Strafe abgeleistet hatten. Er setzte sich wieder und mied den Blick der anderen. Der Platz neben und der vor ihm blieben leer.
Die ganzen folgenden Wochen bis zum Wettkampf blieb Eric immer in Landens Nähe. Die Prügeleien und versteckten Angriffe hörten auf.
Ihm fiel auf, dass sich in den Baracken zwei Lager bildeten, wovon eins von Beron, das andere von Eric angeführt wurde. Die Anhänger von Eric waren zahlreicher, aber stiller. Berons Leute überschütteten Landen nach wie vor mit Häme und schimpften ihn „Prinz Bella" und „König der Feiglinge".
Nach und nach besserte sich Landens körperlicher Zustand, und auch Erics blaues Auge verblasste allmählich. Landen fühlte sich zuversichtlich, seine Lehrzeit überstehen zu können. Eric freute sich über seine Unterstützung beim Bogenschießen und Landen war froh, sich seinem neuen Freund erkenntlich zeigen zu können. Immer, wenn er die spitzen, tödlichen Pfeile von Archeld auflegte, dachte er wehmütig an die stumpfen Pfeile und hübschen Ziele in Bellandra. Der einstige Prinz begann, die Lebensregeln in Archeld zu verstehen. Sich körperlich zu messen wurde in diesem Land äußerst wichtig genommen, damit verschafften sich die Jungen Respekt. Mitgefühl und Menschenfreundlichkeit wurden nicht gefördert oder anerkannt. Landen begriff, warum er mit so viel Unbarmherzigkeit und Verachtung behandelt wurde. Für ihn war Freundlichkeit wichtiger als Aggression, Fairness wichtiger als der Wille zum Sieg. In Archeld galt so etwas als unverzeihliche Provokation, als Zeichen von
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