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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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hatte Landen auch nicht gelernt, was Furcht ist. Vor Kareeds kühnem Feldzug galt Bellandra als unbesiegbar. Der Ruf des legendären Schwertes hatte seit Generationen jeden Eindringling fern gehalten.
    Und was hatte diese Wehrlosigkeit den Jungen gekostet? Emid kannte die Antwort. Alles bis auf das nackte Leben.
    Aber wie hatten die zwei sich getroffen? Was sollte nur daraus werden? Gewiss, dem Mädchen das Bogenschießen beizubringen war ein unschuldiges Tun. Doch später, wenn sie keine Kinder mehr waren? Was sollte daraus werden, wenn sie Mann und Frau geworden waren?
    Emid beobachtete die ganze Unterrichtsstunde und war beeindruckt, wie vertraut die beiden miteinander umgingen und welche Geschicklichkeit sie beim Bogenschießen bewiesen. Sie mussten sich schon viele Male getroffen haben, denn Torina war eine ausgezeichnete Schützin und die beide schlugen einen völlig unbeschwerten Ton miteinander an. Welch ein ungewohnter Anblick war es, Landen hier im Wald wie einen gewöhnlichen Jungen spielen, lachen, scherzen und sich freuen zu sehen. Die stille Zurückhaltung, die Emid Landens Wesen zugeschrieben hatte, war verflogen. Je länger er zusah, desto unbehaglicher wurde ihm zu Mute. Dass Torina leicht Freundschaft mit seinen jüngeren Zöglingen schloss, war ihm natürlich bekannt. Schon oft war sie mit Zeon oder Jelton ausgeritten und Emid hatte es unterstützt, denn seine Schüler sollten einmal die Krieger ihres Landes anführen. Solange ihre Verbindung mit Torina sowohl freundschaftlich als auch pflichtbewusst war, hatte er nichts dagegen. Aber das. Das war eine ausgewachsene Freundschaft unter Gleichberechtigten. Landen musste sich neben der Prinzessin nicht als Prinz gebärden. Er war ein Prinz, das war unübersehbar.
    Nach kaum einer Stunde erinnerte Landen die Prinzessin an die Zeit. Emid hörte, wie sie schnell das nächste Treffen vereinbarten, und sich dann vergnügt von dannen machten.
    Der Ausbilder streckte seine steifen Glieder und machte sich auf den Rückweg.
    Was soll ich tun ? Kareed würde seiner Tochter niemals erlauben, Bogenschießen zu lernen, schon gar nicht vom Sohn seines einstigen Feindes. Wenn er davon erführe, würde der Junge fortgeschickt oder getötet. Und Torina? Sie würde im Haus bleiben und sticken müssen. Emid stellte sich Torina bleich und lustlos mit Nadel und Faden am Kamin sitzend vor. Wie anders ihr Bild dort unter den Bäumen, wo sie rotbackig, mit leuchtenden Augen und straffen Muskeln den Bogen gespannt hielt.
    Er schickte die Jungen in ihre Unterkünfte und blieb noch allein auf dem Übungsplatz, wo er unruhig auf- und ablief.
    Wenn ich dem König melde, was ich gesehen habe, zerstöre ich das Leben dieses Jungen, den ich achten und schätzen gelernt habe. Und die Prinzessin würde vor Gram vergehen. Wenn ich es aber vor dem König geheim halte, breche ich dann den auf ihn geleisteten Eid, der Königfamilie zu dienen?
    Hin und her ging Emid, immer denselben Weg auf und ab. Vor seinem geistigen Auge sah er Landen und schüttelte den Kopf in Bewunderung und Sorge für den Jungen.
    Kareed hatte ein Adlerjunges aufgenommen und behandelte es wie ein gestutztes Hühnchen. Dachte der König wirklich, die Herkunft seines Gefangenen werde sich nicht zeigen? Es hieß, seine Truppen seien in Bellandra von freundlichen Kriegern empfangen worden, die mehr an Verhandlungen als an Schlachten interessiert gewesen seien. Vielleicht verachtete Kareed die Schwäche dieses Landes so sehr, dass er den Prinzen niemals als ernst zu nehmenden Gegner ansehen würde. Landens Art zu sprechen und seine unbeugsame Eigenständigkeit waren für Emid deutliche Anzeichen für die königliche Herkunft des Jungen. Mühelos beherrschte er alles, was ihm beigebracht wurde, und würde eines Tages ein gefährlicher Krieger sein. Was diente dem Wohl des Hauses von Archeld mehr? Ihn fortschicken oder töten? Oder versuchen, ihn zum Hauptmann in Archelds Armee zu machen? Dieser Junge würde nicht nur ein geschickter Krieger, sondern auch ein begnadeter Feldherr werden. Könnte er einem Land dienen, das sein Land zerstört hat? Wie konnte er für Archeld gewonnen werden?
    Wieder sah Emid die Lichtung vor sich und erinnerte sich an den starken Ausdruck von Freundschaft, mit dem Landen Torina angesehen hatte. Kareed gegenüber würde Landen niemals Loyalität empfinden, doch für Torina empfand er sie schon jetzt. Torina war Archelds Zukunft. Unwissentlich hatte Torina einen Verbündeten gewonnen, der der

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