Das Auge der Seherin
vermissen. Nein, Prinzessin, ich gehe zu Fuß."
„Aber Ihr könnt nicht einmal stehen!", protestierte sie.
Er nahm alle Kraft zusammen und stand mit unendlicher Mühe auf. Er blickte in ihre unschuldigen, meergrünen Augen und dachte daran, dass auch er einmal die Welt so arglos gesehen hatte. Steif und voller Schmerzen bückte er sich, legte das Seil zusammen und hängte es über das Sattelhorn. „Ihr müsst jetzt gehen."
„Und Ihr könnt wirklich allein nach Hause?" Ja."
Sie stieg auf Amber. „Dann reite ich jetzt zurück, bevor sie mich vermissen."
Er sah ihr nach, wie sie in leichtem Galopp zwischen den Bäumen verschwand.
Als sie außer Sicht war, brach er, am ganzen Körper zitternd, zusammen.
Torina brachte das Pferd ohne eine Erklärung zurück. Langsam ging sie wieder zum Festplatz, fand Ancilla und ließ sich neben ihr nieder, dankbar, dass die weise, alte Frau sie weder ausfragte noch schimpfte. Das Mädchen testete nach der Kristallkugel in ihrer Tasche und dachte an Landens verlorenes Königreich. Eine Seherin, hatte er gesagt. So etwas gab es also auch bei anderen. Warum nicht hier in Archeld? Sie hatte noch nie von einer Seherin gehört und doch war sie eine. Wieso sie? Warum hatte sie eine Vision von Landen? Wäre er wirklich gestorben, wenn sie nicht gekommen wäre?
Und was war mit der alten Seherin, von der er gesprochen hatte? Wo war sie jetzt? Und der Kristall? Landen sagte, er erinnere ihn an einen Kristall, den er in Bellandra gesehen hatte. Ihr Vater hatte ihn aus Bellandra mitgebracht. Hatte er ihn gestohlen? Sollte sie ihn Landen geben und ihm sagen, er gehöre ihm und nicht ihr?
Sie schauderte bei der Vorstellung, den Kristall wieder herzugeben. In ihrer Tasche schmiegte sich die Kugel weich in ihre Hand und pulsierte im Gleichklang mit ihrem Herzen. Sie zog sie hervor und starrte hinein. Die gewölbten Ränder der Kugel verfärbten sich golden und brachten ein Bild hervor. Eine alte Frau, runzliger noch als Ancilla, mit langem, schlohweißem Haar und unergründlichen, schönen Augen. Sie hielt eine Kristallkugel in Händen und küsste sie. Eine schaurige Gewissheit überkam Torina. Die Frau war Maria und der Kristall jener, den sie in Händen hielt.
Ihr Vater erschien in der Kugel. Er hatte seine Rüstung an und sah furchterregend aus. Er trat dicht an die Alte heran. Diese hielt ihm die Kristallkugel entgegen. „Für Eure rothaarige Tochter", hörte Torina ihr Flüstern. Langsam verschwamm das alte Gesicht, bis der Kristall wieder klar wie Wasser war. Torina saß da und hielt ihn mit beiden Händen fest. Sie empfand unbeschreibliche Freude und gleichzeitig Schmerz. Freude, dass der Kristall wirklich ihr gehörte, Maria hatte ihn ihrem Vater für sie mitgegeben. Sie durfte ihn behalten und musste sich nicht sorgen, dass er einem anderen gehörte. Schmerz, weil sie die Welt durch Marias Augen gesehen hatte, eine Zukunft voller Kriege und das Ende des friedvollen Bellandra.
Die Wettspiele gingen zu Ende und Landen sah von den Rängen aus zu. Emid hatte verkündet, er sei von allen weiteren Wettkämpfen befreit aufgrund der Verletzungen, die er sich bei einem schweren Sturz zugefügt habe. Zu seiner Freude wurde Eric Sieger im Faustkampf und Phillt im Wettlauf. Trotz seiner Verletzungen hätte Landen gerne an den Reiterspielen teilgenommen, jubelte aber dem Sieger aus ganzem Herzen zu. In den folgenden Monaten lösten sich die Spannungen unter den Jungen, denn Beron vermied jeden Kontakt mit dem gefangenen Prinzen und beobachtete ihn nur heimlich mit ungläubigem Schauern. Landen brachte Eric alles bei, was er von der Kunst des Bogenschießens wusste, der einzigen Kriegskunst, für die Bellandra berühmt gewesen war. Eric dankte es ihm, indem er ihn im Faustkampf trainierte. Ihre Freundschaft blühte auf.
Landen wollte sich Torina erkenntlich zeigen, ihr für seine Rettung danken. Es sollte etwas ganz Besonderes sein, etwas, was nur er ihr schenken konnte. Das war nicht einfach, denn Torina war als Prinzessin und Einzelkind sehr verwöhnt. Nachts auf seinem Lager dachte er darüber nach und kam schließlich zu einer Entscheidung.
Alle Bewohner Bellandras, auch die Prinzen, sollten sich in mindestens einer Kunst üben. Manche malten, andere sangen oder tanzten, webten oder färbten, fertigten Schmuck an, tischlerten oder verfassten Gedichte. Landen liebte die Arbeit mit Holz und war geschickt mit den Händen. Er hatte gelernt, Dinge aus Holz herzustellen. Besonders gern
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