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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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schlimmste
    Feind dieses Landes hätte werden können. Wie hatte das geschehen können?
    Das würde Emid vermutlich niemals herausfinden. Er holte tief Luft. Seine Entscheidung war getroffen. Der Junge sollte wegen seiner Freundschaft mit Kareeds Tochter nicht sterben müssen. Diese Freundschaft war Garant für ihre Zukunft. Emid wollte sie nicht verraten.
    Er hoffte, sie wären geschickt genug, jeden Verdacht zu vermeiden, damit kein anderer sie entdeckte.

 
5. Kapitel
     
    Einige Tage nach Torinas zwölftem Geburtstag trafen sich die beiden bei der großen Kiefer am Rande der Wiese. Innerhalb von drei Jahren hatten sie sich erst viermal an dieser Stelle getroffen. Torinas meergrüne Augen waren feucht. „Ich bin den Anstandsdamen weggelaufen, Landen. Sie sagen, Großmutter sei zu alt, um auf mich aufzupassen. Sie werden mich jetzt immer bewachen. Ich habe mich mit ihnen gestritten, aber sie meinten nur ,Du wirst jetzt eine junge Dame und musst dich auch als solche benehmen'. Sie wollen nichts davon hören, dass ich mich nicht wie eine Dame aufführen möchte." Landen wurde es eng ums Herz. Die heimlichen Treffen mit Torina hatten seine Zeit in Archeld mit Leben erfüllt. Aus den anfänglichen Übungsstunden im Bogenschießen war weit mehr geworden. Torina war nicht nur eine exzellente Schützin geworden, sie war auch seine liebste Kameradin. Seit Jahren hatten sie sich mindestens einmal die Woche gesehen und miteinander gespielt und geredet, wie es nur unter gleichgestellten Freunden möglich war.
    Denn gleichgestellt waren sie. Nicht, weil sie von königlichem Blut war und als Prinzessin erzogen wurde. Ihr herrisches Auftreten fand er eher unangenehm. Es war ihre Persönlichkeit. Landen bewunderte ihren lebhaften Geist, flammend wie ihr Haar. Bei ihm vergaß sie oft ihre arrogante Prinzessinnenart und zeigte eine natürliche Freundlichkeit und einen ausgeprägten Sinn für Ehre und Gerechtigkeit. Ungeniert vertraute sie ihm Geheimnisse an, erzählte von ihren Triumphen und Niederlagen und ihren mutwilligen kleinen Aufständen. Sie war ohne Falsch. Er konnte mit ihr über alles reden.
    Nur über eins hatte er nie mit ihr gesprochen, obwohl er oft daran gedacht hatte. Er hatte sie nie gebeten, in ihrem Kristall das Schwert von Bellandra zu suchen. Oh, wie gern hätte er gewusst, wo es war! Es hieß, es sei zerstört, in einer aufwendigen Zeremonie eingeschmolzen worden. Aber Genaues wusste er nicht. Bevor er es für immer aus seinem Gedächtnis bannte, wollte er sicher sein.
    Torina hätte es ihm sagen können. Sie hatte ihn zum Vertrauten ihrer Visionen gemacht. Er staunte über die Genauigkeit ihrer Vorhersagen, über das Ausmaß ihrer Gabe. Ja, sie hätte ihm sagen können, was mit dem Schwert von Bellandra geschehen war. Tausend Mal schon lag ihm diese Frage auf den Lippen. Doch ein Blick in ihre unschuldigen Augen brachte ihn jedesmal zum Schweigen.
    „Ich hasse es, Prinzessin zu sein!", rief Torina zornig. Sie ließ sich zu Boden sinken und schlug schluchzend die Hände vors Gesicht. Landen kniete neben ihr nieder und flüsterte ihr sanft den einzigen Trost zu, den er selbst empfand.
    „Ich bin so froh dich zu kennen."
    Sie nickte unter kurzen Schluchzern.
    Sanft strich er ihr übers Haar. „Torina, ich werde immer
    dein Freund sein."
    ,,]a", schluchzte sie, „mein bester Freund."
    Gab es etwas Kostbareres als diese Worte?
    „Eines Tages wirst du die Macht haben, über dich selbst
    zu bestimmen."
    Sie sammelte mit einer Hand ein paar Kiefernnadeln ein, während Tränen über ihre geröteten Wangen liefen.
    ,,Ja, eines Tages. Ich werde immer an dich denken", sagte sie und streckte die Arme nach ihm aus. Er hatte sie zuvor noch nie umarmt. Es fühlte sich leicht und richtig an.
    „Ich muss jetzt gehen", sagte sie nach einigen Augenblicken, „sie werden schon nach mir suchen." Er ließ sie los und sie stand auf. Als sie davonrannte, hörte er noch ihr unterdrücktes Schluchzen. Landen lehnte sich gegen die Kiefer und spürte den eben erlittenen Verlust.
    Er betrachtete sein Leben und ihm war, als sei Archeld jetzt wieder so, wie er es bei seiner Ankunft gesehen hatte, ein Furcht einflößendes, barbarische Land ohne jede Gerechtigkeit.
    Seine Gedanken reisten zurück nach Bellandra und die Tage seiner Kindheit. Seit Jahren hatte er solche schmerzlichen Erinnerungen nicht mehr zugelassen. Jetzt kehrten sie zu ihm zurück.
    Die Stimme seiner Mutter: „Sei dankbar für das Licht deiner Seele. Wo du auch

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