Das Auge der Seherin
bist, was auch passiert, es scheint immer hell."
Hatte sie gewusst? Diese Worte hatte sie kurz vor ihrem Tod gesprochen.
Hatte sie geahnt, dass ihr Kind einer Welt begegnen sollte, die so anders war als Bellandra?
Er erinnerte sich der stillen Regenbogen, die zu jeder Zeit des Tages sanft die Wolken streiften, des blendenden Glitzerns der Sonne auf den Wellen der Bellanbucht, der Kunst und der Fantasie, die überall in Bellandra herrschten, der Bauern, die liebevoll ihr Land bearbeiteten, der Musiker, die mit ihren Instrumenten bezauberten, der kunstvollen Tänzer, der Heilkundigen, die sich dem Leben verschrieben hatten, und der Seelenwanderer, die die Wege der Sterbenden begleiteten.
Er erinnerte sich an die alte Maria. An ihre weisen, schönen, traurigen Augen, die ihn schweigend ansahen. Er erinnerte sich des Friedens, der die Luft über Bellandra rein und hell erscheinen ließ. Und an Kareed, der dies alles zerstört hatte. Hier in Archeld wurde nichts vom Frieden erhellt, nur dem Krieg und dem Kampf galten Ruhm und Ehre.
Ich bin ein Krieger geworden. Meine Ausbildung ist bald beendet. Würde ich das Schwert finden, könnte ich damit kämpfen.
Doch existierte es überhaupt noch? War es zerstört, war es entweiht? Konnte der einmal entweihte Zauber wieder zurückkehren? Würde er es finden, besäße es dann noch seine Kraft? Oder wäre es nur noch ein hübsches Kriegsspielzeug?
Sorgenvoll schüttelte Landen den Kopf. Das Schwert war verschwunden und Torina von ihm getrennt. Vielleicht war es an der Zeit, Archeld den Rücken zu kehren. Das wäre leicht zu bewerkstelligen. Er musste nur nachts ein Pferd stehlen und sich davonmachen. Er war sechzehn Jahre alt, fast ein Mann. Es gab andere Königreiche, wo er seinen Platz finden würde. Man erzählte sich von Glavenrell, dem Königreich im Norden von Archeld. Dahmis, der mächtige junge König, bemühe sich um ein Friedensbündnis mit seinen Nachbarn. Dort ist vielleicht mein Platz.
Der Junge schloss die Augen. Wie gern würde er dazu beitragen den Frieden unter den Ländern zu fördern. Er war das karge, strenge Leben der Kriegerausbildung müde. Nur wenn er von Zeit zu Zeit Bogen herstellte, konnte er sich in anderen Kunstfertigkeiten üben. Seine Waffen waren wegen ihrer Qualität sehr begehrt. Wie alle Handwerksstücke aus Bellandra, dachte er bitter. Angeblich war Bellandra, nun eine Provinz von Archeld, zu einem Hort gieriger Kaufleute geworden, die die traditionellen Schönheiten des Landes vermarkteten.
Ein verführerischer Gedanke, einfach fortzugehen. Doch dann dachte er wieder an Torina. „Mein bester Freund ", hatte sie gesagt. Landen verspürte ein überwältigendes Gefühl von Zärtlichkeit für sie. Konnte ein bester Freund sie einfach so im Stich lassen? Einmal fort, wäre es schwierig wieder zurückzukommen. Der Gedanke, sie vielleicht nie mehr wiederzusehen, war ihm unerträglich.
Zur Übung am Nachmittag kam Landen zu spät. Er fühlte sich um Jahre gealtert, seit er am Morgen fortgegangen war. Emid brüllte ihn furchtbar an, aber die wütende Stimme des Ausbilders konnte Landens düstere Stimmung kaum durchbrechen. Nach dem Ende der Übung erwartete er eine strenge Strafe, doch sie blieb aus. Emid sah ihn eher mitleidig an, als wüsste er von seinem Kummer und bedauere ihn. In dieser Nacht lag Landen schlaflos auf seiner Liege. Er beschloss, noch eine Weile in Archeld auszuharren, doch sein Herz schluchzte vor Einsamkeit.
Nach diesem Tag wurde es für Landen unmöglich, in Torinas Nähe zu kommen. Er verbrachte seine Zeit fast ausschließlich mit dem letzten Teil seiner Ausbildung und sie kam nicht mehr zu den Übungsfeldern. In den wenigen freien Stunden versuchte er ihr nachzuspüren, kam aber nie nah genug, um auch nur ein privates Wort mit ihr zu wechseln. Wo sie ging und stand war sie von Bediensteten umgeben und ihr Leben wurde zunehmend von königlichen Aufgaben bestimmt. Sie wurde auf die Rolle der zukünftigen Königsgemahlin vorbereitet. Landen ärgerte sich über die Hürden, die das Protokoll ihr auferlegte, und fragte sich, wie Torina, die das Abenteuer und die Freiheit über alles liebte, diese Form der Gefangenschaft aushielt.
Auf seinen einsamen Ausritten traf er manchmal missmutige Soldaten, die ihn fragten, ob er die Prinzessin gesehen habe, sie sei schon wieder ihren Aufseherinnen entwischt. Dann suchte Landen nach ihr und hoffte, sich kurz mit ihr unterhalten zu können. Aber ihre Ausflüge in die Freiheit waren
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