Das Auge der Seherin
gesagt - ich weiß, er wird ein König sein. Ich habe es gesehen. Und jetzt fort mit Euch! Ich will meinen Liebsten treffen!" „Er hat eine Andere."
„Lügner! Das hätte mir der Kristall gezeigt!" „Der Kristall zeigt vielleicht nicht, was Ihr mit eigenen Augen sehen könnt, wenn Ihr nur wolltet!" Torina fühlte sich plötzlich schwach. Woher wusste Landen, dass ihr der Kristall niemals die eigene Zukunft zeigte?"
„Da gibt es nichts zu sehen!", schrie sie und wünschte verzweifelt, er wäre fort. „Es ist Irene."
Die Worte fuhren ihr wie Messerstiche in die Brust. Schwindelig vor Zorn hielt sie sich am Sattelhorn fest wie eine Reitschülerin. „Ihr lügt!"
Sie fingerte ihren Dolch hervor und hielt ihn mit bebender Hand drohend empor.
Landen ließ ihre Zügel fahren und wich zurück.
„Wenn ich Euch Lügen erzählen wollte, würde ich kaum Euren Zorn erwecken, Prinzessin." Er wendete sein Pferd und ließ Torina mit dem Dolch in der zitternden Hand zurück.
„Ich will es nicht glauben", flüsterte sie den Bäumen zu.
Torina verharrte im Schutz der Bäume, bis der Himmel sich im Abendrot verfärbte. Als sie aufbrach, nahm sie den kürzesten Weg nach Hause. Bestimmt suchten sie schon nach ihr, doch sicher nicht auf den öffentlichen Wegen, die sie sonst nie benutzte. So gelang es ihr, die Diener zu umgehen, die die Wälder nach ihr absuchten.
Sie band das Pferd in der Nähe des Stalls fest und beschloss, durch einen Hintereingang ins Schloss zu gehen. Der Weg führte durch einen langen, offenen Gang mit lauschigen Fensternischen zum Schlossgarten hin. Um diese Jahreszeit, wo es kühl war und die Rosen die braunen Köpfe hängen ließen, wurde er selten benutzt. Die kunstvoll verzierten Lampions, die in den wärmeren Monaten des Jahres immer brannten, hingen leer und dunkel an der Wand. Im Gang war es sehr dämmerig. Mit raschen, leisen Schritten, seit Kindertagen geübt, lief Torina an den staubigen Bänken vorbei, auf denen erst wenige Wochen zuvor noch lachende Paare gesessen hatten.
Sie erinnerte sich der Zeit, als Vesputo sie hier getroffen
hatte. Wie er sie angesehen, wie er zu ihr gesprochen hatte, das konnte doch nur aufrichtig gewesen sein? Welcher Mann könnte solch eine Zuneigung nur vortäuschen?
Sanfte Liebesseufzer drangen an ihr Ohr. Sie drückte sich in eine Nische, wollte mit ihrem tränenüberströmten Gesicht nicht gesehen werden.
„Ich habe mich so nach dir gesehnt", flüsterte jemand.
„Aber wir müssen vorsichtig sein, meine Geliebte." Eine kräftige, ruhige Stimme, die Torinas Herz in rasenden Galopp versetzte. Es war die Stimme Vesputos.
Sie kauerte sich in die Nische und zwang sich, lautlos und flach zu atmen, obwohl ihre Lungen vor Schmerz fast zerspringen wollten. Meine Geliebte! Wer war damit gemeint?
An die kalte Mauer gepresst, lauschte Torina den Liebesseufzern und Küssen.
„Du bist die Königin meines Herzens", hörte sie ihn sagen.
„Bin ich erst König, wirst du Königin sein", hörte sie. „Und was ist mit ihr?", säuselte die weibliche Stimme. Torina erkannte Irene.
„Ein verwöhntes Kind, das noch lernen wird, was es heißt dem Gemahl zu gehorchen." Ein Kichern antwortete. „Vesputo, ich muss dir etwas von ihr erzählen, was du nicht weißt."
„Was denn, mein Schatz?" Seine Stimme klang distanziert und eiskalt.
„Ich weiß es von Eva, der Dienerin der alten Königin." „Königin Ancilla?"
Ja. Eva hat vom Nebenzimmer aus ein Gespräch zwischen der Königin und Torina belauscht. Eva sagt, Torina besäße eine Zauberkugel, die die Zukunft vorhersagt."
„Tatsächlich?" Seine Stimme klang plötzlich interessiert.
„Das behauptet Eva jedenfalls."
Torina machte leise kehrt und floh in die Dunkelheit.
Landen saß hoch zu Ross auf einem Fels über dem Meer und dachte an den Tag, als ein kleines Mädchen ihm das Leben gerettet hatte. Kraftvoll donnerte die Brandung gegen den Fels und löste winzige Teile aus dem mächtigen Gestein. In trübe Gedanken versunken sah er den Wellen zu.
Torina hatte seine Worte sehr schwer genommen. Er hatte nicht gewusst, wie sehr Vesputo ihr leidenschaftliches Herz besetzt hat.
Vor seinem inneren Auge sah er ihr bleiches, zorniges Gesicht und ihren trotzigen Blick.
Glaube und Wahrheit kämpfen gegeneinander. Wer auch immer gewinnen mag, ich habe ihre Unschuld getötet. Und nun ? Sie hat ihn mit der Krone gesehen. Landen wusste genug von ihrer großen seherischen Gabe, um zu wissen, dass das, was sie sah, sich auch
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