Das Auge der Seherin
sicher über seine Lippen. Dann beugte er den Kopf und sagte: „Ihr seid nicht mein König. Und all Eure Macht konnte Torina nicht aufhalten. Sie ist es, der ich diene."
Vesputo zog sein Schwert und mit einem Zischen brachte es Eric zum Schweigen. Der junge Mann wurde herumgeschleudert, sackte in sich zusammen und stürzte zu Boden. Beron stand mit offenem Mund da, Tränen schossen ihm in die Augen. Vesputo beobachtete ihn und ahnte, was er empfand. Es war nicht immer leicht, den Tod eines alten Erzfeindes zu erleben. Waren Beron und Eric nicht seit ihrer Kindheit schon Gegner gewesen? Das konnte näher gehen als der Tod irgendeines Unbekannten in der Schlacht.
Vesputo reinigte das Schwert. „Sorge dafür, dass er ein ehrenvolles Begräbnis bekommt. In Erfüllung seiner Pflicht gestorben."
Irene machte es sich bequem und bewunderte die erlesene, feine Spitze an ihrem Kleid. Wie zart sie sich anfühlte! Sie drehte eine Haarsträhne um ihren Finger und seufzte. Wie lange würde es dauern, bis es wieder gewachsen war? Sie lächelte Vesputo an und machte einen Schmollmund.
„Wann kommt Torina endlich, damit ich hier wieder herauskomme?
Er sah sie mit einem langen Blick an. Ihre Kopfhaut prickelte.
„Wo ist die Haube mit Torinas Haaren?", fragte er. „Im Schrank. Ich kann sie nicht mehr sehen. Sie erinnert mich ständig daran, dass sie mir das Haar abgeschnitten hat."
„Setz sie auf, meine Liebe." Wie kalt seine Stimme manchmal klang! „Darf ich hinaus?"
„Setz sie auf und dann sage ich es dir." Irene öffnete den Schrank. Dort lag die Haube mit Torinas sorgfältig befestigtem Zopf. Am liebsten hätte Irene ihn verbrannt. Widerwillig zog sie ihn mit spitzen Fingern hervor.
„Offne den Zopf, meine Liebe."
Irene knüpfte die Schleife auf, das üppige Haar einer anderen Frau ergoss sich über ihren Schoß. „Setzt es auf."
Sie stülpte das verhasste Ding über ihren Kopf und nestelte an dem Band, bis es richtig saß. Vesputo half ihr
die blonden Haarstoppeln unter der Haube zu verbergen, ließ den Schleier jedoch oben. „Gehen wir aus?", fragte sie wieder. Da umfasste er sie mit seinen starken Armen. „Es tut mir Leid, mein Liebling. Ich brauche nur einen Körper."
Sie hatte sich ihm ganz hingegeben, doch bei diesen Worten versteifte sie sich. „Einen Körper?" „Psst."
Sie spürte einen reißenden Schmerz, als der Dolch sich zwischen ihre Rippen bohrte. Er ließ sie los und sie fiel nach hinten aufs Bett, dabei stellte sie sich vor, wie das rote Blut ihr schönes Kleid befleckte. Vom Schmerz überwältigt wollte sie ihm weh tun, Angst auf seinem ruhigen Gesicht erkennen. Aus der Ferne drang ein Rauschen heran. Sie musste etwas sagen, bevor das Rauschen sie endgültig verstummen ließ. Sie versuchte, sein Gesicht zu sehen, doch es verschwamm vor ihren Augen, dann ein Aufblitzen und alles war dunkel.
9. Kapitel
Königin Dreea saß in einem Stuhl an der Wand ihres Schlafgemachs. Vor den Fenstern hingen dicke, dunkle Vorhänge, die das Zimmer in düsteres Licht tauchten. Mit leeren Augen starrte sie vor sich hin und versuchte, die Nebelwand in ihrem Kopf zu durchstoßen. Jemand hatte zu ihr gesprochen. Sie wusste, wer es war, konnte sich aber nicht an den Namen erinnern. Ein gutaussehender, dunkelhaariger Mann, der ihr sehr bekannt vorkam. Sie rieb sich die müden Augen. Ihre Arme fühlten sich schrecklich schwer, als seien Bleibänder in die Ärmel genäht worden. „Entschuldigt, Herr. Was habt Ihr gesagt?" „Meine Königin, ich bin untröstlich, Euch schlechte Nachrichten überbringen zu müssen." „Was ist los mit mir? Schickt nach einem Arzt", sagte sie mit einer Stimme wie von weit her. „Gewiss, Königin. Bald."
„Irgendetwas stimmt nicht mit mir ... wer seid Ihr? ... Dieser Raum ist so dunkel ..."
„Edle Frau, ich habe schlimme Nachrichten für Euch." „Wo ist meine Tochter? Warum will sie mich nicht sehen? Ich liebe sie."
„Torina ist tot. Sie ist gestern gestorben."
„Ich verstehe Euch nicht. Was habt Ihr gesagt?"
Der Mann drehte sich um und murmelte etwas zu einem
hinter ihm stehenden Schatten. Der Schatten murmelte
zurück.
Ihr fehlte etwas, etwas, dass ihr Frieden spendete. „Habt Ihr den Kelch ... meinen Kelch ..." Sie hatte kaum Kraft zu sprechen.
Die Männer murmelten immer noch. Sie verstand das Wort ,Arzt'. Der Schatten schüttelte den Kopf. Der Dunkelhaarige erhob sich.
„Morgen ist die Beerdigung. Richte sie dafür her. Sie muss unbedingt daran
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