Das Auge der Seherin
trinken. Ich bin schrecklich durstig." Er verneigte sich.
Die Männer verschwanden. Dreea starrte verstört auf den Kelch neben ihrem Bett, der sie zum Trinken aufforderte. Sie presste ihre Hände zusammen, bis Blut unter den Nägeln hervorquoll. Das süße, köstliche Gebräu an ihrer Seite zog sie unerbittlich an. „Nein", flüsterte sie, „nein."
Schweißgebadet schwang sie ihre Beine aus dem Bett und stand auf. Das Zimmer begann sich zu drehen, sie ließ sich aufs Bett sinken und wartete, bis der Anfall vorüber war. Dann nahm sie den Kelch. „Nur ein Tropfen. Nur ein Schlückchen", flehte sie sich an. „Ein Schlückchen wird mir nichts schaden." Keuchend und schwankend stakste sie zum Kamin und mit übermenschlicher Anstrengung goss sie den Inhalt
des Kelches ins Feuer, wo er sich zischend in Dampf auflöste.
„Das ist vorbei", stöhnte sie und wankte zum Bett. Sie stellte den Kelch auf das Tablett zurück. Der Schattenmann kam mit einem Krug Wasser wieder.
Sie bemerkte wie er zu dem leeren Kelch blickte. „Habt Ihr noch einen Wunsch, meine Königin?", fragte er, als sei es ein ganz normaler Abend im Schloss des Königs.
„Danke. Ich muss jetzt schlafen."
Die Dunkelheit schien mit Leben erfüllt und bedrängte sie. Kobolde sausten um ihr Bett, zischten und schnatterten boshaft. Ihr Kreischen hallte endlos durch den Raum. Die einsame Königin fürchtete um ihren Verstand. Und als ein Dämon sich auf ihre Brust setzte und das Leben aus ihr herausquetschte, sehnte sie den Tod herbei.
Ein schrecklicher Gedanke durchfuhr sie. Wenn Torina auch unter Drogen gesetzt worden war? Wenn ihre Tochter auch von diesen höllischen Visionen heimgesucht worden war? Hätten sie ausgereicht, das Kind in den Selbstmord zu treiben? Vielleicht hatte Vesputo doch die Wahrheit gesagt!
„Nein", flüsterte Dreea. Der Dämon grinste und schien
allen Atem aus ihr herauszupressen.
Die ganze Nacht über wurde sie von bizarren Gestalten
gequält und verspottet, als risse eine jede ein Stück ihrer Seele heraus und renne damit kreischend durch den Raum. Sie versuchte, die verstreuten Teile ihrer selbst zurückzurufen. Doch alles schien wie zerrissen, entstellt und ohne Hoffnung.
Und ein lähmender Zweifel ließ sie nicht mehr los, Torina könnte wirklich tot sein.
Gegen Morgen war Dreea schweißgebadet. Der Wasserkrug war leer und ihr Herz pochte von immerwährender Hoffnungslosigkeit, Furcht und Erschöpfung. Sie erwartete den nahen Tod, glaubte, ihr Herz würde einfach aufhören zu schlagen. Das Beten hatte sie schon längst aufgegeben. Ihr Körper lag dem verhangenen Fenster zugewandt.
Ein zartrosa Licht drang durch die Vorhänge. Die gemarterte Königin fing den Sonnenstrahl ein und klammerte sich daran fest wie ein furchtsames Kind an die Hand der Mutter. Eine Gestalt kam auf dem Strahl auf sie zu. Torina. Die leuchtenden Augen des Mädchens hielten ihre Mutter umfangen. Majestätisch erhob sie den Arm und die hüpfenden Dämonen schrumpften zu einem wilden Knäuel grauenvoller Grimassen zusammen und verschwanden.
„Lebe", sagte die Erscheinung, „du musst leben!" Ja", gelobte Dreea, ,ja. Ich werde nie mehr davon trinken."
Die Erscheinung verflüchtigte sich. Dreea warf ihre Decken fort und kroch zum Fenster. Sie zog die Vorhänge beiseite und streckte ihre bebenden Hände dem Morgenrot entgegen.
„Ich lebe", sprach sie zur Sonne, „und auch Torina lebt."
Später kam eine Dienerin, die sie kannte. Es war Amile, eine freundliche, schlichte Frau. Als die Königin ihr gestand hungrig zu sein, servierte sie ihr mit Freuden ein stärkendes Mahl. Beim Essen ließ das Zittern ihrer Hände etwas nach. Sie trank noch einen ganzen Krug voll Wasser und ließ sich dann von Amile beim Baden und Ankleiden helfen. Sie bat um einen Spiegel. Erschreckt fuhr sie vor ihrem Spiegelbild zurück. Ihr Haar war vollständig weiß, ihre Augen von dunklen Ringen umschattet. Amile flocht ihre Haare zu einem Zopf und legte ihn zu einem Kranz um ihren Kopf, dann befestigte sie die schlichte Krone im Haar, die Dreea am liebsten trug. Die ganze Zeit über saß die Königin gedankenverloren da.
In einer Sänfte wurde sie zum Friedhof gebracht. Der geschlossene Sarg, geschmückt mit getrockneten Blumen, stand direkt vor ihr. Sie war unter den ersten Trauergästen. Vesputo, Kareeds Krone auf dem Kopf, war bereits da. Mit vorbildlicher Höflichkeit geleitete er sie zu ihrem Platz. Unter den anderen Trauergästen entdeckte sie Emid.
Der
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