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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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aufdringliche, gebieterische Begleiterin, die sie am liebsten fortgejagt hätte, die aber immer wieder versuchte, ihre innere
    Stimme zum Schweigen zu bringen, ihren Willen zu brechen. Die ihr Ruhe und Frieden versprach, wenn sie nur anhielte. Der Wind war Vesputo, der versuchte sie zurückzudrängen .
    Mit aller Willenskraft kämpfte sie gegen ihn an und hörte nicht auf die Müdigkeit.
    Und dann hatte sie es geschafft. Der unendliche Weitblick verkündete ihren Sieg. Sie hatte den Pass erreicht. Unter ihr die ersehnte Baumgrenze, gar nicht weit. In der Nähe ein Grenzposten, halb versteckt zwischen den Bäumen. Dahinter die Bergtäler. In der Ferne erkannte sie sogar Felder und einen Streifen blauen Himmels. Torina begann mit dem Abstieg, froh, dass in Archeld die Schuhe der Stallburschen warm und robust waren, denn nun war es an der Zeit, den Pfand zu verlassen, um nicht entdeckt zu werden. Sie kletterte über Felsen, rutschte Geröllhänge hinab und hielt immer auf die Baumgrenze zu, denn wenn sie endlich Schutz vor dem Wind hätte, würde sie auch die fernen Felder erreichen.
    Es war Abend geworden. Noch dreimal hatte Dreeas Körper revoltiert und sie mit Krämpfen, Zittern und Erbrechen durch die Hölle geschickt. Der Mann gab ihr immer wieder zu trinken und versuchte, ihr das bittere Gebräu einzuflößen. Sie konnte es nicht bei sich behalten. Wortlos reinigte er das Bett. Ihr Körper verlangte nach etwas Anderem.
    Als Vesputo mit dem anderen Mann eintrat, konnte sie sich an seinen Namen erinnern. Ihr Gedächtnis wurde klarer.
    Sie zitterte vor Verlangen, als sie den Kelch auf dem silbernen Tablett sah. Ihre Nerven schrien vor schierer Gier, als der Mann ihr den Kelch reichte. Diesmal hatte das Getränk den richtigen Duft, es roch nicht mehr so bitter. Der Mann lächelte sie an.
    „Besser, meine Königin?", fragte er ehrerbietig und ohne Falsch.
    Wahrscheinlich dachte er, sie könnte sich an nichts erinnern. Und wieder gehorchte sie ihrer inneren Stimme und verstellte sich. „Danke, viel besser. Was ist mit mir geschehen?" „Eine Unpässlichkeit."
    „Ach. Ich danke Euch für den Stärkungstrank." Ihre Hände bebten vor Verlangen. „Vesputo, wo ist Mirandae?"
    Eine leichtes Runzeln machte sich auf Vesputos Stirn breit, um gleich wieder zu verschwinden, wie eine Stofffalte, die vom heißen Eisen geglättet wird. „Mirandae wacht seit zwei Monaten bei ihrer sterbenden Mutter, meine Königin."
    „Warum weiß ich das nicht mehr?" Dreea rieb sich die
    Augen. „So müde. Ich muss schlafen."
    „Edle Frau, ich habe schlimme Nachrichten für
    Euch."
    „Bitte, Vesputo, kann das nicht bis morgen warten?" „Meine Königin, erinnert Ihr Euch daran, dass Torina und ich vor einigen Tagen verheiratet wurden?" „Ver-verheiratet?" Benommen schüttelte sie den Kopf. „Nein, Vesputo. Wie sollte ich mich daran erinnern ... wo ich doch nichts davon gewusst habe?" „Ach, meine Königin, Eure Krankheit ist Schuld daran. Natürlich wurdet Ihr davon unterrichtet. Torina hat so gewünscht, Ihr möget dabei sein."
    „So geht es ihr besser? Möchte sie mich endlich sehen?" Dreeas Herz machte einen Sprung. Vesputo seufzte. „Nein, meine Königin. Sie wird niemanden mehr sehen." „Niemanden mehr sehen ...?"
    Vesputo nahm auf einem Stuhl neben ihrem Lager Platz und ergriff ihre bebenden Hände.
    „Sie ist gestern verschieden, durch ihre eigene Hand. Sie hat sich nie von ihrem Schmerz erholen können." „Ver- verschieden? Unmöglich! Das würde sie niemals tun!" Dreeas Stimme wurde schrill. „Leider ist es die Wahrheit."
    „Es ist nicht wahr! Ich kenne meine Tochter! Sie würde niemals ... niemals gehen ohne ein Wort des Abschieds." Dreea stieß seine Hand fort. Sie starrte Vesputo an. Sie blickte in seine vertrauten Züge und ihr war, als sehe sie ihn zum ersten Mal. Er war ein Monster, kein Mensch. Er log, log, log. Torina war nicht tot.
    Tief in ihrem Herzen spürte sie eine Kraft, die ihr sagte,
    was sie tun musste. Sie durfte sich vor diesen Männern nichts anmerken lassen. Sie waren Feinde. Dreea zwang sich, sie aus glasigen Augen anzusehen. „Ich weiß, wie schwer dies für Euch ist", sagte Vesputo. Sie schwieg.
    „Die Beerdigung ist morgen Nachmittag. Ihr wollt sicher daran teilnehmen."
    Dreea überhörte nicht den Befehl, der in seinen glatten Worten mitschwang. Sie nickte.
    „Lasst mich allein", sagte sie matt. „Und schickt mir morgen eine Frau, damit ich mich baden und ankleiden kann. Ich muss mehr Wasser

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