Das Auge der Seherin
teilnehmen." Er verschwand. Der Schatten näherte sich, packte ihr Gesicht und untersuchte ihre Augen und ihren Mund. Dann ging auch er. Dreea war allein.
Sie versuchte aufzustehen und zum Bett zu gehen. Das Zimmer drehte sich und sie hielt sich krampfhaft am Stuhl fest und wartete, bis die Welt sich wieder gerade gerückt hatte. Sie musste lange warten. Schließlich stand sie mit zitternden Beinen auf. Sie lehnte sich gegen die Wand. Ihre Hände verfingen sich in weichem Stoff. Um nicht umzufallen, klammerte sie sich verzweifelt daran fest. Ein gleißender Lichtstrahl schoss hervor und stach ihr in die Augen. Ein Fenster. Dreea verbarg das Gesicht im Vorhang, um dem quälenden Licht zu entgehen.
„Warte", sagte sie zu sich selbst, „warte, bis deine Augen so weit sind."
Nach und nach gewöhnten sich ihre Augen an das Tageslicht. Sie zog die Vorhänge etwas weiter auf und stützte sich auf das Fenstersims. Sie schwitzte vor Anstrengung.
Am ganzen Leibe zitternd schwankte sie zum Bett und verkroch sich voller Angst unter die Decken. Der Schatten kehrte zurück und brachte den Kelch mit. Der Mann beugte sich über sie und zwang ihre aufeinander schlagenden Zähne auseinander und hielt sie fest, um ihr das Getränk einzuflößen. Aber was war das? Es schmeckte bitter ... nein, dunkel und bitter, das war falsch. Süß und kirschrot war es immer gewesen. Dreea stieß ihm den Kelch aus der Hand und warf sich aufbäumend hin und her. Ihr Gewand war von Schweiß durchtränkt.
Dann versuchte sie sich aufzusetzen, doch ihr Körper wollte ihr nicht gehorchen. Der Schatten richtete sie auf und reichte ihr ein Glas Wasser. Sie stürzte es herunter, der Schweiß strömte, sie verlangte nach mehr und trank wieder. Ihr Magen verkrampfte sich und entledigte sich seines Inhalts. Als der Anfall vorüber war, setzte der Mann sie in einen gepolsterten Stuhl und reinigte das Bett.
Dreea fühlte sich unvorstellbar schwach, trotzdem begann sich der Nebel in ihrem Kopf zu lichten. Irgendetwas in ihr ermahnte sie, dies vor dem Mann zu verbergen, der sie jetzt hochhob und wieder ins Bett trug. Sie hatte pochende Kopfschmerzen und schloss die Augen und zwang sich gleichmäßig zu atmen. Der Mann ging eine Weile vor ihrem Bett auf und ab, dann fühlte sie seine Hand auf ihrer feuchten Stirn. Endlich hörte sie ihn gehen.
Was war das für eine Krankheit? War sie vergiftet worden? Ihr geliebter Kareed war auch vergiftet worden. Sie versuchte sich zu erinnern, doch ihre Gedanken verschwammen hinter dichten Nebelschleiern. Kareed war ermordet worden. Sie hatte ihre Tochter nicht mehr zu Gesicht bekommen. Torina hatte sich in ihrem Gemach eingeschlossen und Vesputo ... Vesputo hatte gesagt, man dürfe sie nicht stören ...?
Warum nur hatte sie auf ihn gehört? Sie war Torinas Mutter, sie kannte ihr Kind. Torina brauchte sie. Ich muss zu ihr.
Dreea setzte sich auf, war aber zu schwach, um aufzustehen. Wo war Mirandae? Die Königin rief sie mit matter Stimme. Warum war niemand hier? Wer war der Mann, der nach ihr sah? Wo hatte sie ihn schon gesehen? Er kam ihr irgendwie bekannt vor. Er kam oft in ihr Gemach, fühlte ihren Puls und prüfte ihre Augen. Manchmal gab er ihr einen Trank, damit sie schlafen konnte. War er ein Arzt?
„Ein Schlaftrunk", sagte sie laut. Sie sah ein Bild vor sich, ein Bild von einem Silberkelch auf einem silbernen
Tablett, eine hübsche Frau, die sich über sie beugte.
Er hatte den Wasserkrug dagelassen.
Mühsam goss sie sich ein und weinte angesichts ihrer
Schwäche.
Sie versuchte sich zu erinnern, wann alles begonnen und wie alles begonnen hatte.
Torina beugte sich gegen den scharfen Wind, ihre durchfrorenen Hände hatte sie unter die Decke geschoben, die sie sich umgehängt hatte. Sie lauschte auf jedes Lebenszeichen in sich, auf ihren keuchenden Atem, auf ihre schlurfenden Schritte, doch der Wind übertönte alles. Ihre aufgesprungenen Lippen waren zum eisigen Schnee erhoben und flehten in endlosen Gebeten um die Kraft, den Pass zu erreichen. Er konnte nicht mehr fern sein, denn hier gab es nichts außer Felsen, Schnee und Wind.
In dieser wilden Einöde war alle Angst vor Verfolgern von ihr abgefallen. Sie wanderte über einen offenen Trampelpfad, dem einzigen, den sie gefunden hatte. Er führte über abgelaufene Steine, die einen Weg andeuteten. Er gab ihr die Gewissheit, dass das Gebirge überwindbar war und schon andere vor ihr hier gegangen waren.
Die Müdigkeit nagte an ihr, sie war eine
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