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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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hatte ein blassgrünes Hochzeitskleid an, ihr Gesicht war von einem undurchsichtigen Schleier bedeckt. Sie setzte langsam Fuß vor Fuß. Nur der dicke rote Zopf, der unter einer grünen Haube aus Satin hervorquoll, erinnerte an das einst lebhafte Mädchen. Die von Handschuhen bedeckten Hände waren ineinander verschränkt.
    Als ihre leise raschelnden Röcke an ihm vorbeistrichen, überfiel den Ausbilder ein lauerndes Unbehagen. Die gesichtlose Gestalt des Mädchens hatte etwas Fremdartiges an sich. Während der kurzen Zeremonie lüftete sie nicht einmal den Schleier. Er starrte sie an und versuchte angestrengt das tonlose Flüstern zu verstehen, das ihre Ehe mit Vesputo besiegelte. Schmerzhaft erinnerte er sich an die einstmals ausgelassene junge Frau, die mit ihrem Vater gestorben zu sein schien. Der alte Krieger saß aufrecht und steif auf seinem Platz und kämpfte mit den Tränen.
    Zum Abschluss der Trauung ließ der Priester die Gemeinde zum Gebet niederknien, und als Emid wieder aufschaute, sah er nur noch, wie Vesputo seine Braut zum Seitenausgang führte und sich die Tür hinter ihnen schloss.
    Emid ging rasch zu Mavell und fasste den alten Priester
    am Arm.
    „Mavell!"
    Die trüben Augen des Priesters blickten in die Ferne. „Emid?"
    Ja, ich bin's, Emid. Mavell, Ihr habt mit der Prinzessin gesprochen?"
    Ja, ich habe mit der jungen Dame gesprochen." Still löste sich Mavell aus Emids Griff, schritt zum Altar und stimmte eine endlose Litanei an. Emid verließ die Kapelle.
    Torina vermutete, es war früher Abend, obwohl die Sonne immer noch hinter tief hängenden Wolken versteckt war. Es war wieder kälter geworden und das graue Licht wurde immer düsterer. Sie befand sich im Vorgebirge. Den ganzen Tag war sie geritten, hatte nichts gegessen und nur gelegentlich angehalten, damit das Pferd trinken und grasen konnte. Amber hatte seinen Schritt verlangsamt und ließ müde den Kopf hängen. Die Prinzessin biss sich auf die Lippe und haderte mit ihrer eigenen Müdigkeit. Bald würde der Schlaf sie übermannen, noch länger dagegen anzukämpfen war zwecklos.
    Sie kamen an ein breites, plätscherndes Bächlein. Amber blieb stehen und neigte sich zum Trinken. Torina ließ sich erschöpft zu Boden gleiten. Dann kroch sie ans Ufer und trank das Wasser in langen Zügen. Danach legte sie sich ins feuchte Gras und wäre am liebsten nie mehr aufgestanden. Nachdem der wunderschöne Hengst getrunken hatte, stupste er seine Herrin mit dem Maul an. Mit letzter Kraft zog sie sich wieder auf seinen Rücken und lenkte ihn durch das Wasser auf die andere Seite des Baches, wo die Bäume bis ans Ufer reichten.
    Sie konnte nicht weiter. Unter einer ausladenden Weide breitete sie ihre Decken aus.
    Im Zwielicht kuschelten sich das Mädchen und das Pferd aneinander und schliefen ein.
    Verwirrt wachte sie auf, glaubte sich in ihrem Bett als Gefangene Vesputos. Überall Nebel. Wie kam der Nebel in ihre Kammer?
    Neben ihr bewegte sich das Pferd und da fiel es ihr wieder ein, die Flucht, der Ritt über die Ebene. Sie war frei, sie war hungrig und sie befand sich am Fuß des Cheldangebirges. Ihr Kopf ruhte auf dem Hengst, der sie wärmte. Mit steifen Gliedern stand sie auf und blickte in den neuen Tag.
    Der wabernde Nebel würde sich bald in feinen Regen verwandeln. Leicht benommen ging Torina zum Bach, um zu trinken. Und dort, in der feuchten Ufererde sah sie die unverwechselbaren Hufspuren von Amber. Sie blickte über das rauschende Wasser und seufzte. „Amber, mein guter Freund. Unsere Wege trennen sich."
    Sie trank so viel sie konnte und Amber stellte sich neben sie und löschte ebenfalls seinen Durst. Als er fertig war, streichelte sie seine tropfende Nase. „Nur du konntest mich so weit tragen. Und jetzt musst du wieder nach Hause."
    Das Pferd sah sie aufmerksam an und stellte die Ohren auf.
    ,Ja. Deine Kraft hat mich vielleicht gerettet, aber sie darf mich nicht verraten." Unter Tränen streichelte sie seine Flanken und wuschelte durch seine Mähne. „Geh, Amber. Geh jetzt nach Hause."
    Sie gab ihm einen sanften Klaps. Er neigte seinen großen Kopf, rieb seine Schnauze an ihr und setzte über den Bach auf die gegenüberliegende Wiese. Dort blieb er kurz stehen und kaute ein wenig Gras, dann sah sie ihn gemächlich westwärts gehen, und mit ihm ging das letzte Verbindungsglied zu ihrem früheren Leben. Sie zog die klobigen, viel zu großen Schuhe und die Strümpfe aus, die Eric ihr gegeben hatte, und packte sie in eine Decke. Dann

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