Das Auge der Seherin
krempelte sie die Hosenbeine auf und stakste ins eisige Wasser. Die Kälte verschlug ihr den Atem und ihre Beine liefen sogleich krebsrot an. Doch irgendwo in ihrem Inneren erwachte das kriegerische Blut derer von Archeld und tapfer watete sie ostwärts durch das steinige Bachbett. Es musste einfach sein. Jetzt wollte sie nicht mehr aufgeben. Im Vergleich zu Vesputo war die Kälte nichts.
Bei Einbruch der Nacht musste Beron anhalten, denn in der Dunkelheit konnte er unmöglich weiter den Spuren folgen, die am Tag deutlich zu erkennen waren. Im dürren Gras der Ebene schlug er sein Zelt auf und rollte sich in seine Decken.
Er erwachte erst am spät am Morgen, vom grauen Himmel fiel leichter Nieselregen. Rasch stärkte er sich an Käse und Brot, bestieg seine Stute Engan und ritt los. Am Nachmittag sah er schon die Ausläufer des Gebirges, die in der Ferne aus dem Nebel ragten. Die ganze Zeit über war er keinem Menschen begegnet. Dann entdeckte er die Abdrücke von Torina und dem Hengst an einer Wasserstelle. Er musste kichern. Das dumme Mädchen verstand es wirklich nicht, ihre Spuren zu verwischen. Wahrscheinlich hatte sie auch nichts zu Essen dabei. Es war nur eine Frage der Zeit, bis er sie eingeholt hatte. Er machte Rast und streckte sich aus. Dann ritt er im Galopp weiter, immer der Spur Ambers nach, die sich wie ein roter Faden vor ihm ausstreckte. Ständig suchte er den Horizont nach Anzeichen von Torina ab und wurde zwei Stunden später belohnt, als er vor sich im Gras eine breit ausgetretene Spur entdeckte, bald darauf den Schlag von Hufen vernahm und auf Amber stieß, der die Stute mit einem Wiehern begrüßte und sein goldenes Haupt schüttelte. Beron runzelte die Stirn. Warum hatte sie Amber entkommen lassen? War sie eingeschlafen und vom Pferd gefallen? Eric hatte erzählt, sie sei bei Tagesanbruch aufgebrochen. Sie musste pausenlos geritten sein, um so weit zu kommen.
Beron versuchte das Pferd am Zügel zu packen, doch Amber wich ihm aus. Er war bekannt dafür, dass er mit seinen Reitern wählerisch war. Nach zahlreichen vergeblichen Versuchen beschloss er, keine Zeit mehr zu verlieren. Das Pferd war fast so wertvoll wie die Prinzessin, aber es würde sicher seinen Weg allein nach Hause finden.
Stunden vergingen und der Tag neigte sich zum Abend. Beron wunderte sich, denn Ambers Spur war klar zu erkennen. Wie konnte die Prinzessin in so kurzer Zeit so weit gekommen sein?
Außer Eric hatte gelogen! Vielleicht hatte er sie erkannt! Sie waren immer gut miteinander ausgekommen. Und wenn sie sich ihm zu erkennen gegeben hatte? Das würde Einiges erklären.
Beron gab seinem Pferd die Sporen, denn er wollte sie bis zum Abend gefunden haben. Sonst würde sie ihm womöglich entwischen.
Durchnässt und übellaunig erreichte er im grauen Zwielicht des Abends einen Fluß im Vorgebirge. Der Regen verwischte Ambers Hufspuren, aber am Ufer konnte er sie immer noch ausmachen. Hier jedoch endeten sie und führten wieder zurück. In der einbrechenden Dunkelheit suchte er das Ufer ab. Regen troff ihm von der Mütze. Nichts.
Frustriert watete er durch das Wasser und entdeckte am anderen Ufer eine Vielzahl von Spuren im lehmigen Untergrund und eine Mulde, dort, wo das Pferd gelegen hatte. Aufgeregt rannte er am Ufer auf und ab und fluchte, die Spuren waren verschwunden. Als es Nacht geworden war, entzündete er ein Feuer, schlug sein Zelt auf und schwor Eric bittere Rache.
Torina lag in einer Astgabel über dem Wasser. Sie hatte eine qualvolle Wanderung hinter sich. Sie war durch das kalte Wasser gewatet bis ihre Füße taub und aufgerissen waren, war dann auf einen herabhängenden Ast geklettert und hatte ihre Zehen angehaucht, massiert und eingewickelt und sie wiederbelebt. Dann war sie wieder ins kalte Wasser hineingeglitten und mit zusammengebissenen Zähnen weitergegangen, das Kinn gereckt, die Decken schwer vom Regen. Dann wieder ein Baum, wo sie zitternd und mit klappernden Zähnen die Zehen anhauchte, rubbelte und einwickelte. Auf diese Weise war der Tag verstrichen und schließlich konnte sie nicht mehr.
Sie kletterte leise schluchzend auf eine große Weide. Der Baum musste seit Jahrhunderten dort gestanden haben, seine ausladenden, verkrümmten Äste hielten die hungrige und bis auf die Haut durchnässte Prinzessin geborgen.
Den ganzen Tag lang war sie so gegangen und hatte kein einziges Mal den Fuß auf den Boden gesetzt. Sie war sich sicher, dass sie keine Spur hinterlassen hatte, aber sie konnte sich
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