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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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rief nach der Mutter. Anna kam eilig heraus und lief mit ihr zu dem Fremden zurück, der mit dem Gesicht zum Boden dalag. Anna kniete neben ihm nieder und drehte ihn vorsichtig um und legte ihre Hand auf seine Stirn.
    „Gnade Gott! Der arme Kerl verglüht fast vor Fieber!", rief sie und verzog mitleidig ihr freundliches Gesicht. „Woher er nur kommt?", fragte Lindsa. Anna untersuchte die schmale Gestalt. „Das ist kein Junge", sagte sie. „Kein Junge?"
    „Hilf mir, sie ins Haus zu schaffen. Sie stirbt uns noch, die Arme."
    Mutter und Tochter hoben die federleichte Fremde hoch und brachten sie in ein Schlafzimmer. Dort zogen sie ihr die feuchten Kleider vom Leib und fanden bestätigt, dass sie kein Junge war. Dann zogen sie ihr ein sauberes Hemd von Lindsa über und wickelten sie in dicke Decken. Anna heizte ein und bereitete eine heiße Brühe. Dann hob sie die sieche Wanderin auf ihren ausladenden Schoß und flößte ihr löffelweise Brühe ein. „Nur ruhig, nur ruhig", summte sie leise, ,jetzt wird alles wieder gut."
    Lindsa saß auf dem Bett und bestaunte das stoppelige, widerspenstige rote Haar des Mädchens. Das Gesicht war zart und streng, die Wangen eingefallen. „Mir scheint, sie sieht uns gar nicht, Mama." ,Aber nein, das arme Kind. Das Fieber hat sie weit fortgetragen."
    „Wird sie überleben", fragte Lindsa ängstlich. „Niemand kennt Gottes Wege. Doch ich bin sicher, sie ist nicht zum Sterben zu uns gekommen. Aber wir müssen alles tun, um sie zu retten, denn sie selbst hat nicht mehr die Kraft dazu, das ist klar. Schau nur, wie abgemagert sie ist. Das ist nicht die Arbeit eines Tages. Wir müssen ihr heute Nacht stündlich Brühe einflößen und sie warm halten. Das Fieber ist hoch, aber sie hat keine eigene Körperwärme mehr."
    „Woher mag sie nur kommen, Mama? Ihre Kleider - warum ist sie wie ein Junge angezogen und hat so komische Haare?"
    „Man sieht, dass es erst vor kurzem abgeschnitten wurde. Es muss wunderschön ausgesehen haben, als es noch länger war. Sie ist auf der Flucht, ganz bestimmt. Und vor wem sollte sie wohl fliehen, wenn nicht vor einem Mann?"
    Lindsa ergriff eine Hand des Mädchens. „Meinst du wirklich? Wie romantisch!" „Hm. Ein Glück, dass sie uns getroffen hat." „Wie schmal und lang ihre Finger sind." Lindsa rieb sie sanft und betrachtete das brennende Gesicht. „Das ist kein gewöhnliches Mädchen. Sie ist etwas Besonderes." Anna tupfte die heiße Stirn mit einem Tuch ab. Lindsa nahm die fremde Kleidung auf. „Soll ich sie waschen, Mama?" ,Ja, bitte."
    Lindsa legte die grobe Hose zusammen. Sie bemerkte eine kleine Ausbuchtung, fuhr mit der Hand in die Tasche und zog einen kleinen Beutel aus feinstem Samt hervor.
    „Schau nur, Mama!", rief sie.
    Anna sah von ihrer Patientin auf und schnalzte mit der Zunge. „Was habe ich dir gesagt? Da ist uns keine gewöhnliche Streunerin ins Haus gekommen! Mach doch auf, vielleicht erfahren wir, wer sie ist." Lindsa langte in den Beutel. Sie zog eine große Kristallkugel hervor, die von Innen heraus glitzerte wie ein Diamant. Sie legte sie der Fremden in die Hand. Das Mädchen schloss ihre Finger darum und seufzte. „Siehst du, ich habe meinen Kristall wieder ..." Ihre Aussprache war vornehm wie die eines Edelfräuleins.
    Lindsa zog eine Hand voll geschliffener, roter Steine hervor.
    „Mama?", rief sie und schüttete sie in Annas geöffnete Hand.
    Die Mutter starrte auf die Edelsteine und strich mit dem Daumen über ihre schillernde Oberfläche. „Rubine?", rief sie atemlos. „Lindsa, nur ein einziger dieser Steine könnte uns für Jahre versorgen." Sie sah ihre Tochter streng an. Verwirrt saß Lindsa da und starrte abwechselnd auf die Steine und auf das Mädchen im Bett.
    Der Morgen war bitterkalt als Kapitän Hadnell seine Krieger im Versammlungszelt des Lagers antreten ließ. Als Landen über den Platz ging, peitschte ihm eiskalter Wind ins Gesicht. Schnell stellten sich die jungen Männer in Reihen auf.
    „Es gibt Neuigkeiten", verkündete er. „Schon wieder eine Tragödie in Archeld, unserem Nachbarn im Westen." Landen heftete seine Augen starr auf den Hauptmann, sein Herz pochte rasend.
    „Ihr wisst, dass König Kareed von Archeld vor über zwei Monaten ermordet wurde", sagte Hadnell mit lauter Stimme. „Kareed hinterließ ein Kind, seine Tochter Torina, die seinem Oberbefehlshaber Vesputo versprochen war. Nach dem Ende der Trauerzeit heiratete sie ihn." Landen rang nach Luft. Er versuchte, seine Erregung zu

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