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Das Auge der Seherin

Das Auge der Seherin

Titel: Das Auge der Seherin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victoria Hanley
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Ausbilder beugte sich tief über ihre Hand. Sie ergriff seine rauen, vernarbten Finger. Auch er war in diesen letzten Monaten um Jahre gealtert.
    „Bleibt bei mir, bitte, Emid", sagte sie. „Es tut mir gut, Euch an diesem finsteren Tag an meiner Seite zu haben." Sie sah ihm in die Augen und suchte nach der Bereitschaft, sie zu verstehen. Ihr wundes Herz lebte auf, als er ihren Blick erwiderte und dann neben ihr Platz nahm.
    „Vesputo", hob sie ruhig an. „Meine Königin."
    „Vesputo, ich konnte mich von meiner Tochter nicht mehr verabschieden. Bitte öffnet den Sarg, bevor die anderen Trauergäste eintreffen. Ich möchte ihr Gesicht ein letztes Mal sehen."
    Über das glatte, markante Gesicht Vesputos blitzte kaum merklich eine Spur Besorgnis. „Das ist ausgeschlossen, edle Frau. Der Anblick ist zu schrecklich und Ihr seid noch zu geschwächt."
    Aus den Augenwinkeln beobachtete Dreea Emids starr aufgerichtete Gestalt, die kaum zu atmen wagte. Dreea schloss die Augen, um die rasende Hoffnung zu verbergen, die ihr Herz aufwühlte. Seine Antwort gab ihr die Gewissheit, dass nicht der Leichnam ihrer Tochter in dem Sarg lag.
    Aber wer dann? Und wo war Torina? Dreea schien es, als seien innerhalb weniger Augenblicke Tausenden von Soldaten aufmarschiert. Sie waren überall, ein dunkles Heer grüner, archeldischer Uniformen. So viel Macht hatte Vesputo also? Es waren alles junge Männer, deren Gesichter sie nicht kannte.
    „Mein Herr, Ihr mögt Recht haben." Sie sah, wie er sich entspannte. „So muss ich mich Eurem Rat unterwerfen."
    Er ergriff ihre Hand. „Edle Frau, Eure Weisheit ist göttlich."
    „Vesputo", fuhr sie mit gesenkter Stimme fort, doch laut genug, dass Emid es hören konnte, „ich brauche Euren Schutz."
    „Meinen Schutz?"
    „Man hat mich unter Drogen gesetzt."
    Überrascht fuhr er auf. „Euch unter Drogen gesetzt? Im
    Schloss des Königs? Unmöglich."
    Sie beugte sich zu ihm. „Ich glaube, es ist diese Frau. Irene. Die mir abends immer den Stärkungstrank bringt."
    „Sollte so etwas möglich sein?"
    „Glaubt mir, Herr, das ist die einzige Erklärung. Mein Geist war von Trauer getrübt, aber ich hätte doch niemals vergessen, dass ... oh mein Gott." Sie sprach für Emid und hoffte, er möge sie hören. „Edle Frau, ich werde alles tun, was in meiner Macht liegt."
    „Ich danke Euch, Vesputo. Ich wusste, dass ich Euch vertrauen kann. Bitte schickt nach Mirandae, damit sie mich pflegt. Und lasst Euch von Emid eine zuverlässige Wache empfehlen. Ich brauche auch einen Arzt." „Gewiss, Königin. Euer Wunsch ist mir Befehl." Sein Gesicht war zu einer kalten, gefährlichen Maske erstarrt.
    Dreea sprach schnell weiter. Jetzt, da meine Familie tot ist, möchte ich mich vom öffentlichen Leben zurückziehen. Ihr wisst, es hat mich nie sonderlich interessiert. Ich möchte weben und die Armen besuchen. Das Königreich ist in Euren Händen gut aufgehoben. Es ist zu schrecklich, was geschehen ist. Ihr könnt nicht vorsichtig genug sein. Ich rate Euch, einen Vorkoster einzustellen."
    „Ich werde es mir überlegen." Der gefährliche Ausdruck in seinem Gesicht verschwand.
    Vesputo erhob sich, um wichtige Gäste zu begrüßen. Sie drehte sich zu Emid um und wünschte nichts sehnlicher, als seinen starken Arm zu fassen. Der Ausbilder nickte ihr kaum merklich zu.
    Zitternd sog sie die Luft ein und ließ sich auf die Kissen zurücksinken. Tränen der Erleichterung glänzten in ihren Augen.
    Dreea lauschte der Trauerfeier für ihre Tochter. Die Trauergemeinde war riesengroß und die meisten zeigten aufrichtigen Schmerz. Truell, der Priester, der den Nachruf hielt, wurde einige Male vom Schmerz fast überwältigt. Der arme Mann. Er dachte, sie sei tot. Alle glaubten, sie sei tot.
    Dreea verkroch sich in ihrem heimlichen Glauben, dass ihre Tochter am Leben sei. Im Verlauf der Trauerfeier wurde ihr Verlangen nach dem Silberkelch jedoch immer stärker. Sie begann zu schwitzen. Als der Sarg schließlich in das Grab hinabgelassen wurde, waren ihre
    Kräfte aufgezehrt. Sie sah die Gäste auf sich zukommen, die sie umarmen oder ihr die Hand geben wollten. „Emid", sagte sie mit zitternden Lippen und zupfte ihn am Ärmel, „ich muss gehen ... bitte, bringt mich ... nach Hause ..."
    Sie sah sein erschrockenes Gesicht, spürte seine starken Arme und hörte seine kräftige Stimme, die Helfer herbeirief. Ein paar Jungen scharten sich um sie, ein freundlicher Mann fühlte ihren Puls und klopfte ihr auf den Rücken. Sie wurde

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