Das Auge der Seherin
sie mit matter Stimme.
Die ältere der Frauen, deren Gesicht so wärmend war
wie die Decken, die Torinas Körper einhüllten, warf ihr
einen erwartungsvollen Blick zu.
„Du bist wach? Hast du etwas gesagt?", fragte sie.
Torina stützte sich in den Kissen auf und versuchte sich
zu setzen.
„Wo bin ich?"
„Lindsa, sie kommt zu sich!", rief die mütterliche Frau aus. Die Jüngere setzte sich neben das Bett. „Du bist hier auf unserem Hof, sagte das hübsche Mädchen mit den dunklen Haaren und nahm Torinas schmale Hand. „Ist hier ... Desante?"
Die Frauen sahen sich an, dann lächelten sie und nickten. Torina seufzte erleichtert.
„Ich heiße Anna Dirkson und das ist meine Tochter Lindsa."
Torina versuchte zu lächeln und merkte erstaunt, wieviel Anstrengung sie das kostete.
„Kannst du jetzt etwas essen?", fragte Anna.
Die Prinzessin schob ihre Hand unter die Decke und
legte sie auf ihren Bauch. Knochen. Sie war nur noch
Haut und Knochen! Beunruhigt rang sie die Hände.
„Seit wann bin ich hier?"
„Seit eineinhalb Tagen", antwortete Anna.
Sie erinnerte sich nur noch daran, die Baumgrenze im
Gebirge erreicht zu haben.
„Aber wer ... wie ...?"
„Du Arme. Wir haben dich gepflegt und dir Brühe eingeflößt."
„Ich kann mich an nichts erinnern."
„Du warst krank und hattest hohes Fieber."
„Aber wie bin ich hierher gekommen?"
„Du bist abends vom Wald heruntergekommen." Die
Stimme der Frau hatte einen eigenartigen, angenehmen
Singsang.
„Ist mir jemand gefolgt?"
„Nein, meine Liebe. Außer uns und meinem Mann Tesh weiß niemand von dir, und er wird nichts verraten." Torina blickte auf ihre knochigen Hände und die zerbrechlichen Gelenke. Die Frau sah sie still und mitleidig an.
„Warum?", fragte sie schließlich, „warum habt ihr mir geholfen?"
„Du warst in einer Notlage. Wer sonst außer uns hätte
dir helfen können?"
„Ich fühle mich so schwach." „Natürlich, aber du wirst wieder gesund. Du hast einen starken Körper, das kann man sehen. Hast dich ein bisschen überanstrengt, aber das wird schon wieder." „Dann habt ihr mir das Leben gerettet. Ich danke euch."
Lindsa strich ihr übers Haar. Anna brachte eine Scheibe Brot, die noch ofenwarm war. „Versuch zu essen."
Gehorsam wurde das Brot genommen und in kleine Stücke gebrochen.
Lindsa brachte einen Krug Apfelmost. „Wie kann ich euch nur danken?"
„Das brauchst du nicht. Wir alle müssen einander helfen. Und jetzt erzähle, wer du bist und woher du kommst."
„Das kann ich nicht. Ich würde euch in Gefahr bringen."
Lindsas Augen leuchteten auf. „Gefahr?"
„In schreckliche Gefahr. Ihr dürft mich niemals gesehen haben."
„Das ist ja unglaublich!"
Torina lächelte traurig. „Sobald ich wieder wohlauf bin, werde ich gehen."
Anna legte ihren Arm um Torina. „Wohin willst du gehen? Können wir dir nicht helfen, deine Familie wieder zu finden?"
Torina spürte wieder Tränen aufsteigen. „Ich habe keine
Familie", hörte sie sich sagen und sah Landens Gesicht vor sich auftauchen. Sie scheuchte das Bild beiseite. „Bitte glaubt mir. Ich habe nichts verbrochen, aber ich kann nicht zurück." „Zurück? Wohin?" „Nein, ich darf es nicht sagen."
Anna wiegte den Kopf sorgenvoll hin und her. „Meine Liebe, vielleicht bin ich nur eine einfache Bäuerin, aber ich habe Augen im Kopf und bin nicht von gestern. Meine Lindsa hat sicher ihre Fehler, aber sie kann den Mund halten, wenn es gilt, ein Geheimnis zu wahren. Wir haben deine Kleider untersucht und das Säckchen mit Edelsteinen gefunden." Sie schwieg und holte tief Luft.
„Vor mir und meiner Tochter musst du keine Angst haben. Wir haben dich gepflegt und gehört, was du im Fieber gesprochen hast."
Torina meinte, das Herz müsse ihr stehen bleiben. „Ich habe gesprochen?"
Ja. Du kommst aus Archeld. Und nur der liebe Gott weiß, wie du allein über das Cheldangebirge gekommen bist und überlebt hast. Und es gibt einen Mann, der dich verfolgt."
„Habe ich seinen Namen genannt?" „Nein, Mädchen." Annas unschuldiges Gesicht zeigte Enttäuschung „Und dein Geheimnis kannst du für dich behalten. Du kannst bleiben solange du willst." „Ich kann euch bezahlen."
„Das wissen wir. Wir haben dir nicht für Geld geholfen. Du bist müde. Ruh dich jetzt aus." Anna deckte sie zu und Lindsa sagte leise Gute Nacht. Dann nahmen sie die Kerze und gingen hinaus.
Torina lag still im Bett und sah in die tanzenden Flammen im Kamin.
Sie versuchte zu denken,
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