Das Auge der Seherin
aber sie fühlte sich zu benebelt und erschöpft. Die Augen fielen ihr zu.
Strahlende Sonne weckte Torina. Das Feuer war niedergebrannt, doch die kalte Morgenluft drang nicht bis unter die warmen Decken. Torina richtete sich auf und setzte sich mühsam hin. Sie schob ihre Beine über die Bettkante. Unter ihren Füßen lag ein dicker Flickenteppich. Sie versuchte aufzustehen und schwankte unsicher wie ein Kleinkind.
Das Zimmer war gemütlich eingerichtet. Die Möbel waren selbst getischlert. Sie hatte ein zerknittertes Baumwollhemd an. Der Saum war fein bestickt. „Arbeitsame Leute", murmelte sie und stakste zum Fenster. Draußen sah sie ein schmales, gerodetes Stück Land, das bis zum Waldrand reichte. Ehrfürchtig starrte sie auf die mächtigen Bäume, dann sah sie auf ihre Füße hinunter.
„Du hast es geschafft", sagte sie zu sich selbst.
Auf der Kommode lag ein Kamm. Als Anna und Lindsa
hereinkamen, kämmte Torina ihr kurzes, schmutziges
Haar.
Die Frauen gaben ihr zu essen und halfen ihr beim Baden, das hatte sie sich am sehnlichsten gewünscht. Sie brachten sie in das Zimmer, in dem sie webten. Beim Anblick der Webstühle ächzte Torinas Herz, denn sie dachte an ihre Mutter, die sich immer noch in Vesputos Gewalt befand.
Anna machte sich an die Arbeit. „Meine Liebe, wenigstens deinen Namen solltest du uns verraten, wie sollen wir dich denn nennen?"
Torina dachte kurz nach. „Vineda. Nennt mich einfach Vineda."
„Lindsa, erzähle Vineda, was du gehört hast." Anna lächelte. „Die Neuigkeiten aus Archeld." Lindsa beugte sich vor. „Gerade als du das Land verlassen hast, gab es dort große Veränderungen. Du hast sicher von der Ermordung des Königs gehört? Das war, bevor du geflohen bist." Lindsa wartete bis Torina nickte. „Dieser König hatte eine Tochter, die dem Oberbefehlshaber seines Heeres versprochen war. Sie heiratete ihn und er wurde gekrönt, aber kurz darauf tötete sie sich von eigener Hand. Es heißt, sie sei wahnsinnig gewesen."
„Psst, Lindsa!" Anna ließ die Arbeit fallen und eilte zu ihrem Schützling. „Wir wollten dir doch nur etwas aus der Heimat erzählen."
Torina spürte, wie ihr Herz zu Eis erstarrte. Vesputo! Irgendwie war es ihm gelungen, ihr Volk zu täuschen. Erst die Heirat! Und jetzt tot!
„Lindsa, schnell, hol Wasser. Sie hat die arme Jungfrau wohl gekannt. Nicht wahr, Vineda? Du hast sie gekannt?"
Torina schloss die brennenden Augen. Das Zimmer schien weit weg zu rücken. Sie ließ sich auf ihren Gedanken treiben. Sie war nach Desante gekommen, weil sie sich irgendwie vorgestellt hatte, sie könnte König Ardesen um Schutz bitten. Doch nun, wo alle Welt sie für tot hielt, wo Vesputo König war und ein Heer befehligte ... Wenn sie sich Ardesen zu erkennen gab, krank, schwach und mittellos, wie sollte er sie wiedererkennen? Er kannte sie als kleines Mädchen. Warum sollte er sich ihrer annehmen? Entweder er ließ sie als Hochstaplerin hinauswerfen oder er übergäbe sie Vesputo. Und selbst wenn er sie da behielte, würde sich die Nachricht wie ein Lauffeuer bis Archeld verbreiten. Vesputo hatte bewiesen, dass er zur Durchsetzung seiner Interessen auch Gift einsetzte.
Ich kann doch nicht gegen meine eigenen Landsleute kämpfen, gegen die Krieger von Archeld ?
Hatte Eric der Mutter von ihrer Flucht berichtet? Wusste Dreea, dass ihr Tod nur vorgetäuscht war? Konnte sie ihr eine Botschaft überbringen lassen? Nein, Briefe würden bestimmt abgefangen werden.
Mit Königen und Königreichen wollte sie nichts mehr zu tun haben. Das gewaltsame Streben nach Macht war ihr verhasst.
Ich bin keine Prinzessin mehr. Ich muss mir ein Auskommen unter den gemeinen Menschen dieses Landes suchen. Die königliche Herkunft gehört der Vergangenheit an, ebenso wie mein Name.
Sie kehrte in die Gegenwart zurück. Ihr war, als hätte sie in den vergangenen Minuten ein ganzes Leben hinter sich gelassen.
„Verzeiht mir, ich muss mich wieder hinlegen.“
11. Kapitel
Ardesen, König von Desante, saß aufrecht auf seinem Thron im Ratsaal, zwei Wachen zu beiden Seiten. Sein ergrautes Haupt war hoch erhoben, seine alten Augen blickten wachsam und streng. Draußen herrschte eisiger Winter und der König war dankbar für das warme Feuer im Kamin.
Hadnell, einer seiner Hauptmänner, wurde vorgelassen und verbeugte sich. Ardesen bot ihm einen Stuhl an. „Ich wisst, warum ich Euch rufen ließ?", fragte der König.
„Ich vermute, es betrifft einen meiner Krieger, mein
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