Das Auge der Seherin
Bedauern muss ich Euch vom frühzeitigen Tod Eures Gesandten unterrichten, den das Unglück ereilte, innerhalb der Grenzen meines Reichs von Banditen überfallen zu werden. Leider gibt es in meinem Königreich immer noch Gebiete, in denen Gefahr und Gesetzlosigkeit herrschen. Mein Beileid. Dahmis. Oberkönig.
Vesputo befahl Beron, den Sarg zu öffnen. Tobans aufgeschwemmtes Gesicht zeigte unleugbar, dass er tot war.
„Er soll mit allen Ehren bestattet werden", sagte Vesputo. Seine Stimme krächzte, aber das war ihm sogar lieb. Sollten die Leute ruhig denken, er trauere um sie, wenn sie starben. „Ich werde der Beerdigung beiwohnen. Beron, du kommst mit mir."
Er verließ den Hof so schnell, dass Beron ihm kaum folgen konnte. Im Privatgemach des Königs schloss er sorgfältig die Tür hinter sich, dann warf er den Brief zu Boden und trampelte darauf herum.
„Es gibt nur eine Person, die den König gewarnt haben kann", wütete er. Verwirrt sah Beron ihn an
„Dahmis ist gewöhnlich nicht misstrauisch!", fuhr Vesputo fort. Vor Zorn traten seine Nackenmuskeln hervor. „Aber wer?", fragte Beron und kräuselte seine dichten Augenbrauen.
„Sie lebt!" Vesputo schrie es fast hinaus. „Und Dahmis hört auf sie. Sie muss an seinem Hof leben. Mit diesem verfluchten Stein."
„Prinzessin Torina?", fragte Beron stockend. „Sprich diesen Namen niemals laut aus! Ja!" Vesputo verschränkte die Arme vor der Brust und fasste sich wieder. „Du musst sie finden. Und ihren Kristall." Seine Stimme war kalt wie der Wind, den er im Schlosshof verspürt hatte.
3. Kapitel
In leichtem Galopp ritt Torina über die kleine Wiese vor ihrer Hütte. Unter Justinas Hufen klebte nasses, schmutziges Laub. Feine Regentropfen benetzten das Gesicht der jungen Frau. Ihr Haar war wie immer vollständig verhüllt. Das Pferd war ihr zum liebsten Kameraden geworden. Täglich ritt sie auf ihm aus, und oft suchte sie in unbewohnten Gegenden versteckte, unberührte Winkel, wo große Bäume standen. Wenn sie sich dann an einen mächtigen Stamm lehnte, konnte sie manchmal dem vergessenen Frohsinn ihrer Seele nachspüren. Meist aber spürte sie nur eine Welle der Verbitterung und stellte sich vor, wie ihr Leben verlaufen wäre, wäre sie nur klüger gewesen. Ein weiteres Jahr ging zur Neige und noch immer musste sie in der Fremde leben. Häufig besuchte sie Lindsa, das Glück ihrer Freundin war ihr ein kleiner Trost. Die kleine Antonia entzückte Torina mit ihrer Anhänglichkeit, sie tapste auf sie zu, streckte ihr die runden Armchen entgegen. Manchmal ritt Torina mit ihr gemächlich durch das Dorf. Torina wusste, dass die Dorfbewohner sich über sie wunderten, und konnte sich genau vorstellen, was für ein Bild sie abgab: ein wunderschönes Pferd, ein mausgraues Kopftuch, ein braunes Kleid und ein freudloses Gesicht. Trotzdem akzeptierten die Menschen sie, vielleicht, weil sie schon fast drei Jahre lang unter ihnen wohnte. Immer noch kamen junge Männer und warben um sie, doch ihre Antwort lautete immer gleich. Nein. Und der Oberkönig? Dahmis hatte nicht viel Zeit für einsame Ritte in Verkleidung. Als er sie bat, ihre Voraussagen einigen seiner engen Vertrauten mitzuteilen, weigerte sie sich hartnäckig. Eines Abends im Frühling einigten sie sich darauf, fortan ihre Botschaften verschlüsselt auszutauschen. Sie schrieb ihm nun jede Woche und versteckte die sorgfältig formulierten Briefe in einem hohlen Baum tief drinnen im Wald, wo sie von Dahmis Männern abgeholt wurden. Die Soldaten bekamen sie nie zu Gesicht, ebenso wenig wie sie die Soldaten.
Dank ihrer Weissagungen ersparte sie König Dahmis manches Problem, wie sie aus seinen verschlüsselten Antworten erfuhr, die nie unterzeichnet waren. Das Bündnis wurde größer, denn immer mehr Könige ließen sich vom Wert gegenseitiger Unterstützung und offener Handelsbeziehungen überzeugen. Erst vor kurzem waren die mächtigen Herrscher Mlaven und Endak dem Bündnis beigetreten und hatten dem Oberkönig die geforderte Treue geschworen.
Dahmis belohnte sie großzügig. Torina war reich, doch ihr Reichtum lag stumm und vergessen in einem Korb hinter dem Kamin. Geld konnte das Eis ihres einsamen Herzens nicht schmelzen. Seit dem Treffen im Frühjahr hatte sie Dahmis nicht mehr gesehen und jetzt lag schon wieder der Herbst in der Luft. Mutlos glitt sie vom Pferd.
„Komm, meine Schöne, ich reibe dich trocken", sagte sie und führte das Pferd zum Stall, den Tesh für sie gebaut hatte.
In
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