Das Auge der Seherin
einzigen regelmäßigen Besuchern, konnte sie unterscheiden. Sie ging zum Fenster, stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte hinaus. Draußen stand ein stattlicher Mann in der armseligen Kleidung der Ziegenhirten. Sie öffnete König Dahmis die Tür. Er lächelte, seine Augen blickten sie freundlich an.
„Ich danke Euch, Vineda. Eure Vision hat sich bewahrheitet", sagte er mit tiefer, freundlicher Stimme. Mit einer spontanen Geste der Freude streckte sie die Hand nach ihm aus. „So habt Ihr ihn gefangen?"
Er drückte ihr die Hand fest und männlich. ,Ja. Wir haben ihn gefangen zurück zu seinem König geschickt." „Zurückgeschickt?" Alle Farbe wich aus ihrem Gesicht und sie ließ seine Hand los.
König Dahmis lachte. „Ihr hattet Recht, Ihr könnt nicht alles sehen." Er sah sie durchdringend an. „Er wird uns keine Probleme mehr bereiten." „Ist er - ist er tot?" „Er ist tot."
„Oh!" Toban, ihr Gefängniswärter und der Komplize Vesputos, tot!
„Und nun zu angenehmeren Dingen. Kommt." Er nahm sie am Arm und führte sie hinaus.
Dort standen zwei edle Pferde, ein weißes und ein graues. Ihre Zügel waren um einen Ast geschlungen. Dahmis band das weiße Pferd los und legte die Zügel in Torinas Hände.
„Es gehört Euch, mit Dank."
Einen Augenblick lang verwandelte Torina sich wieder in ein Kind, ein Kind, das sich in ein wunderschönes Tier verliebt hat. Sie legte ihre Arme um den seidig weißen Hals der Stute. Mit feuchten Augen rieb sie ihr Gesicht an dem weichen Fell.
„Sie ist viel zu edel für ein Mädchen vom Dorf, sagte sie.
Der König sah sie aufmerksam an. „Ihr seid ganz sicher nicht auf einem Bauernhof erzogen worden. Eines Tages vielleicht erzählt Ihr mir, woher Ihr kommt." „Nein."
„Nun gut", sagte der König und bohrte nicht weiter. „Es tut mir Leid."
„Bitte behaltet das Pferd. Es gehört Euch. Die Dorfbewohner werden sich daran gewöhnen. Ihr könnt ihnen ja etwas von reichen Verwandten erzählen. Vielleicht von einem Cousin, der einen desantischen Schaukampf gewonnen hat."
Torina versenkte ihre schlanken Finger in die Mähne der Stute und schüttelte den Kopf. „Bitte. Tut es dem König zuliebe."
Torina seufzte und die Stute stupste sie an der Schulter. Damit war die Entscheidung gefallen. Ja, meine Schöne", flüsterte sie und lächelte. Dahmis fragte zufrieden: „Dann nehmt Ihr sie an?" Ja. Ich danke Euch. Ich werde sie Justina nennen." Justina."
Sie schwiegen. Torina streichelte die Stute und dachte an Amber.
„Vineda, was habt Ihr mir noch zu sagen?"
Ihr Herz schnürte sich zusammen. „Zuerst, vergesst
nicht, Ihr habt mich nie gesehen. Ihr wisst nicht, wie ich
aussehe."
Der König nahm ihren Arm und drehte sie sanft zu sich. Dann ergriff er ihre Hände. Instinktiv drehte sie sich zur Seite. Er steckte die Hände in die Taschen seines alten, geflickten Mantels. „Fürchtet mich nicht, Vineda."
Vesputo stand im Schlosshof, neben ihm Beron. Sie schauten auf die von Emid geleiteten Turnierübungen hinunter. Vesputos Gedanken waren weit weg in Glavenrell. Wo blieb Toban? Er hätte längst zurück sein müssen.
Hinter ihm entstand eine Unruhe und er drehte sich um. Er hörte Rufen, dann das Schlagen von Hufen. Einige seiner Soldaten scharten sich um eine Gruppe Männer in der braunen Uniform des Oberkönigs. Ein Offizier trat vor und verbeugte sich. „Mein Herr."
Vesputo neigte seinen Kopf gerade soweit, wie es die Höflichkeit gebot. Obwohl der Tag warm und mild war, war ihm, als bliese ihm ein kalter Wind ins Gesicht. Mit eiskalten Händen nahm er eine Schriftrolle von Dahmis entgegen.
„Der Oberkönig schickt Euch diese Botschaft und drückt sein Bedauern aus." Der Oberkönig schickt ...so lebt er?
Der Offizier nickte seinen Männern zu. Vier braun gekleidete Soldaten hoben einen Sarg von einem Pferdekarren und trugen ihn zu Vesputo. Sie setzten ihn vor ihm auf dem glatten Steinboden ab. Der Offizier verbeugte sich wieder und deutete einen höflichen Abschiedsgruß an.
„Wartet!", sagte Vesputo plötzlich. „Wollt Ihr nicht eine Erfrischung zu Euch nehmen und die Nacht über ruhen?"
Wieder bekam er eine Verbeugung zur Antwort. „Nein, mein Herr. Wir danken Euch. Doch unser König erwartet unsere unverzügliche Rückkehr." Der Mann bestieg schwungvoll sein Pferd und ritt an der Spitze seines Trupps von dannen. Nach kurzer Zeit war nur noch eine Staubwolke von ihr zu sehen. Langsam löste Vesputo die Schnur von der Schriftrolle und las.
Mit
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