Das Auge der Seherin
schon jetzt als außerordentlich stark. Die neuen Schiffe aber waren unvergleichlich viel größer, jedes einzelne fasste siebenhundert Mann! Dahmis neigte zu der Ansicht, dass seine Späher übertrieben. Ein Schiff dieser Größe musste eigentlich untergehen. Doch die Besorgnis erregenden Nachrichten häuften sich. Bereits seit Hunderten von Jahren plünderten Sliviiter die Küstenregionen, sie waren verhasste und gefürchtete Piraten. Aber das. Das bedeutete einen regelrechten Einmarsch.
Fast alle Königreiche des Nordens waren dem Bündnis beigetreten.
Dahmis war überzeugt davon, dass diejenigen, die sich noch nicht angeschlossen hatten, sich bald unter den
Schutz des Bündnisses begeben würden. Die Kriegsvorbereitungen der Sliviiter waren allen bekannt, kein König wollte sich ihnen allein entgegenstellen. Selbst Vesputo hatte Dahmis versöhnliche Noten zukommen lassen und sich nach seinen Plänen erkundigt. Dahmis seufzte. Konnte er das Vergangene ruhen lassen und Vesputo in das Bündnis aufnehmen? Die Armee Archelds war nicht leicht zu übergehen. Mit einer ausreichenden Anzahl von Truppen und entsprechenden Befestigungen konnten Angreifer von See durchaus abgewehrt werden. Die Frage war nur, wo die Sliviiter landen wollten. In welcher Bucht würden sie angreifen? Das hatten Dahmis' Späher trotz aller Bemühungen nicht herausgefunden. Solange darüber Unklarheit herrschte, waren seine Truppen und die seiner Verbündeten ohne Schlagkraft.
Vineda hatte immer wieder in ihre Kristallkugel geschaut, um ihm zu helfen, hatte aber nur ein schreckliches Aufgebot von Schiffen gesehen. Sie konnte nicht sagen, wohin sie segelten, und war der Meinung, sie seien noch unentschieden.
Der König biss sich auf die Lippen. Er wünschte, er hätte genug Zeit, um allein nach Desante zu reisen. Vielleicht konnten er und Vineda gemeinsam herausfinden, welche Fragen sie dem Kristall stellen musste. Schon liebäugelte der Herbst mit dem Winter und bescherte manchen Frost. Dahmis glaubte, bis zum Frühjahr Zeit zu haben, denn gewöhnlich warteten die Sliviiter bis zur Eisschmelze, bevor sie zu ihren Raubzügen aufbrachen.
Larseid trat neben ihn und händigte ihm eine Nachricht aus. Obwohl die Schriftrolle unversiegelt war, war sie ungeöffnet.
„Was ist das?" Gleichgültig drehte er sie um. „Schaut genau hin, mein Herr."
Dahmis untersuchte die kleine, fest verschnürte Rolle und erkannte überrascht in der sorgfältigen Bindung einen fast vergessenen Geheimcode. Seine Wachen waren auf diesen Code hingewiesen worden, doch niemand außer ihm kannte seine Bedeutung. Gott sei gedankt für solche umsichtigen Männer! Die Rolle enthielt eine Nachricht von Dreea, der Witwe von König Kareed.
Der Code war eine Idee von ihr. Die Königin hatte ihm als Geschenk eine wunderschöne Webarbeit und eine kleine Fanfare geschickt, die ihm zusammen mit ein paar Höflichkeitsgeschenken von Vesputo überbracht worden waren. Eingedenk des vergifteten Stiletts hatte Dahmis die Geschenke genau untersuchen lassen, doch sie erwiesen sich alle als harmlos. Ein Soldat aus der Delegation Archelds hatte durch Larseid ein kurzes Treffen unter vier Augen mit dem König arrangiert. Bei diesem Treffen hatte Dahmis den Code mit den Knoten gelernt - auf diese Weise konnte die Königin heimlich Kontakt zu ihm aufnehmen.
Und nun dies. Dahmis stieg zum Königshügel hinauf, einem kleinen, hoch gelegenen Brachfeld in der Nähe des Übungsplatzes. Dorthin zog der König sich zurück, wenn er allein sein wollte.
Von dort aus konnte er schon von weitem jeden sehen, der sich näherte.
Oben angelangt lehnte er sich gegen einen Felsen und las.
Lieber König Dahmis.
Ich schreibe Euch, weil Ihr mir als tapferer und ehrbarer Mann bekannt seid. Ihr sollt wissen, dass das Schwert von Bellandra nicht zerstört wurde, sondern sich in Archeld befindet. Vesputo darf sich seiner nicht bemächtigen. Ich kann nichts tun, außer Euch wissen zu lassen, wo es sich befindet, was mir mein Mann vor seinem Tod offenbarte.
Die Botschaft war nicht unterzeichnet, aber Dahmis bewunderte ihren Mut, denn wäre der Brief abgefangen worden, hätte alles auf Dreea hingedeutet. „Das Schwert von Bellandra", flüsterte er und zog mit bebenden Händen einen sorgfältig gezeichneten Plan des Königsschlosses von Archeld hervor. „Dann wurde es also wirklich gestohlen, als Kareed Bellandra eroberte." Kareed hatte alle Gerüchte um das Schwert unterdrückt und behauptet, es sei zerstört
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