Das Auge der Seherin
diesem Augenblick trat König Dahmis hervor, wieder in der Uniform eines einfachen Soldaten. „Oh!", rief Torina.
Der König sah blendend aus. Sein Zuwachs an Macht stand ihm wie ein maßgeschneiderter Mantel. „Entschuldigt. Ich wollte Euch nicht erschrecken." Er lächelte.
Die Freude ihn wiederzusehen überwältigte sie.
„Ich muss Euch sprechen", sagte er, „seid Ihr allein?"
„Immer", sagte sie ohne nachzudenken.
Der König fasste sie unters Kinn und hob ihr Gesicht zu
sich empor. „Ihr seid einsam."
Sie wandte sich ab, um ihre verräterischen Tränen zu
verbergen. Justina drängte sich an sie und der König trat
einen Schritt zur Seite.
„Versorgt erst das Pferd. Ich kann warten."
Torina rieb das stattliche Tier ab, bis ihre Augen wieder
klar sehen konnten.
„Sollen wir hineingehen?", fragte sie.
Sie bot ihm Wasser und Essen an, doch er lehnte ab und setzte sich auf den Stuhl, auf dem er bei ihrer ersten Begegnung gesessen hatte. Sie entfachte ein kleines Feuer.
„Vineda, dieser Besuch hält mich von dringenden Staatsgeschäften ab."
„Was wollt Ihr wissen?" Sie holte die Kristallkugel hervor.
„Keine Staatskrise. Aber mir ist zu Ohren gekommen, dass ein Mann Nachforschungen über eine Wahrsagerin anstellt."
Torina richtete sich auf und atmete aufgeregt. „Und?" „Er beschreibt sie sehr genau. Eine junge Frau mit roten Haaren."
Instinktiv fasste Torina an ihr Kopftuch und vergewisserte sich, dass kein Haar hervorlugte. Da sprang Dahmis mit einer raschen Bewegung auf, beugte sich vor und zog ihr mit einem Ruck das Tuch vom Kopf. Vor seinen Augen ergoss sich die rote Haarpracht in üppigen Wellen.
Torina sah den König wütend an und wand die verräterischen, roten Strähnen wieder zusammen. „Wer seid Ihr?", rief er. „Ihr seid wunderschön." „Wer ist dieser Mann?"
Er schüttelte den Kopf. „Das habe ich noch nicht herausgefunden. Wenn Ihr Euch mir anvertrauen könntet, wäre es leichter für mich. Sagt mir wenigstens, aus welchem Königreich er kommt."
Sie dachte nach. „Ich kann Euch nur so viel sagen, dass
ich niemals in meine eigene Zukunft sehen kann. Ich weiß also nicht, woher sie kommen." Der König sah sie überrascht an. „So kann Euch Eure Gabe nicht helfe?"
Torina wrang die Hände und bereute ihre Offenheit. „Nein."
„Aber habt Ihr denn keine Vermutung? Jemand aus Eurer Vergangenheit? Woher kommt Ihr?" „Nein, das kann ich Euch nicht sagen." „Warum nicht, Vineda? Ich vertraue Euch mit ganzem Herzen. Könnt Ihr mir nicht ebenso vertrauen?" Seine Worte klangen ehrlich, wenn auch eine Spur ungehalten.
Am liebsten hätten sie ihm alles offenbart, ihm die ganze Last ihres Daseins zu Füßen gelegt. Warum auch nicht? Das Schicksal hatte ihr das Vertrauen des mächtigsten Mannes aller Königreiche in die Hände gelegt. Er würde ihr mit Sicherheit glauben, wenn sie ihm die Wahrheit sagte.
Aber was würde dann aus ihrem geliebten Heimatland werden? Sie hatte in Erfahrung gebracht, dass Vesputos Armee immer noch so stark wie zur Zeit ihres Vaters war. Von den politischen Vorkommnissen in Archeld wusste sie so gut wie nichts. Ihr Anspruch auf den Thron konnte einen verheerenden Bürgerkrieg zur Folge haben. Für ihr Volk war sie längst gestorben. „Oh ja, auch ich vertraue Euch von ganzem Herzen. Aber wenn Ihr wüsstet..." „Würde es Krieg bedeuten?", fragte er leise. Beim Blick in sein Gesicht schreckte sie noch mehr davor zurück, mit seiner Hilfe gegen Vesputo zu kämpfen. Nie mehr sollte jemand um ihretwillen sterben müssen, nie mehr.
Sie nickte widerstrebend. „Ich verstehe", sagte der König.
Sie schwiegen. Dahmis sah zu, wie Torina nervös ihr Haar flocht. Dann ließ sich der König zu ihrer Überraschung vor ihr auf die Knie nieder. Sie spürte die Kraft, die von seiner Persönlichkeit ausging. „Vineda. Ihr müsst in meine Festung kommen. Dort werdet Ihr sicher sein."
Torina warf abwehrend die Hände nach oben, ihre widerspenstigen Haare fielen herab. „Dort wird man mich töten! Dort werden sie mich suchen!" „Wer wird Euch suchen, Vineda? Ihr dürft die Gefahr hier nicht unterschätzen!" Dahmis nahm ihre bebenden Hände.
Sie schüttelte ihn ab. „Ich kann nicht wie eine Gefangene in einem Schloss leben."
Ein plötzlicher Regenguss trommelte auf das Dach. Das Feuer flackerte und zischte, als Tropfen durch den offenen Kamin fielen.
„Ich möchte Euch beschützen", drängte der König. „Wenn Ihr nicht in mein Schloss kommen wollt,
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