Das Auge der Seherin
nach ihr fragen.
Dann rieb er trotz seiner Müdigkeit sein Pferd ab und gab ihm Futter.
Gerade als er aus dem Stall trat, kam ihm Torina über die Lichtung entgegen. Es war dunkel geworden, aber das Mondlicht erhellte den Schnee, fast als wäre es Tag. Das Tuch hatte sie wie immer um den Kopf gebunden, eine fadenscheinige Jacke bedeckte ihre schlanke Gestalt. Erleichtert sie zu sehen, fragte sich Dahmis wieder, warum sie ihre Schönheit verbergen musste. „Vineda", sagte er und vergaß einen Augenblick seine Müdigkeit. Freundschaftlich berührte er ihre Schulter, doch er schreckte zurück, als er die Kälte in ihrem Gesicht gewahrte. „Vineda, was ist los?"
Ihre Augen sahen im Mondlicht undurchdringlich aus. „Ihr habt Euch mit Vesputo verbündet", verkündete sie, als habe er ihr etwas Unverzeihliches angetan. Dahmis biss die Zähne zusammen. Ja. Es war notwendig, Vineda. Manchmal ist Eure Hellsichtigkeit ein Fluch. Ich wollte es Euch selbst erzählen." „Er wird das Bündnis verraten."
„Seine Soldaten sind hervorragende Krieger. Auch seine Küste ist den Angriffen der Sliviiter ausgesetzt!" Mit verschlossener Miene ging sie zur Hütte. „Er wird Euch verraten", sagte sie über die Schulter. Dahmis folgte ihr. „Habt Ihr das gesehen? Warum habt Ihr mich denn nicht benachrichtigt?" Sie drehte sich abrupt nach ihm um. „Ich muss nicht in die Zukunft sehen, wenn es um Vesputo geht!" „Dann habt Ihr es also nicht gesehen." Er starrte auf ihr Gesicht, das vom Mondlicht weiß erhellt war. Wieder streckte er die Hand nach ihr aus. Sie zuckte zurück. „Vesputo kennt seine Interessen, Vineda", argumentierte er. „Die Sliviiter sind für ihn die größte Bedrohung, die sein Land je erlebt hat. Und für mich eine größere Bedrohung, als ein einzelner, machthungriger König. Nur ein geschlossenes Bündnis kann uns vor den sliviitischen Truppen schützen. Alle Berichte bestätigen, dass sie zum größten Angriff aller Zeiten rüsten. Das wisst Ihr selbst."
Die schöne junge Frau ballte ihre Fäuste. „Warum seid Ihr hier?"
„Aus zwei Gründen, Vineda. Erstens wollte ich sehen, ob Euch etwas zugestoßen ist. Zweitens brauche ich gerade jetzt Eure Hilfe."
Sie zitterte. „Die werdet Ihr nicht bekommen." „Bitte, Vineda. Das Bündnis ist sehr wichtig. Vesputo befehligt eine starke Armee. Sobald das Eis geschmolzen ist, befinden wir alle uns in großer Gefahr, auch er."
„Habt Ihr denn schon vergessen?", fragte sie. „Er hat Euch nach dem Leben getrachtet!"
„Der Oberkönig kann es sich nicht leisten, alte Schulden aufzurechnen. Ich brauche Vesputo. Er hält eine Schlüsselposition. Ihn zu bekämpfen, würde meine Truppen jetzt zu sehr schwächen. Das Bündnis ist unsere einzige Chance!" Seine Stimme war laut geworden, kleine Atemwolken stiegen in die eisige Luft. „Dann möge es Euch von Nutzen sein", antwortete sie.
„Wollt Ihr mir nicht helfen?"
Sie reckte ihr Kinn, ihre Lippen bebten. Entschlossen drehte sie ihm den Rücken zu. „Vineda! Bitte, helft uns!"
Sie ging in die Hütte und schloss die Tür. Der Oberkönig war allein. Er hob seine Augen zum Sternenhimmel empor. Er wollte ihre Tür einschlagen, sie zwingen ihm zu helfen. Wann und wo hatte sie einen so leidenschaftlichen Hass auf Vesputo entwickelt? Von Königen schien sie nicht viel zu wissen, sonst würde sie die taktischen Züge verstehen, die diese oft gegeneinander führten. Vesputo war nicht der Einzige, der versucht hatte, Dahmis Platz einzunehmen. Zu Beginn seiner Herrschaft hatten ihn viele auf alle erdenkliche Weise herausgefordert, manche offen, manche im Geheimen. Vesputo hatte jetzt das fehlende Glied in seinem Bündnis geschlossen. Seine Kundschafter hatten herausgefunden, wo die Invasion der Sliviiter stattfinden sollte.
Er hatte Dahmis ermöglicht, mit mehreren Männern und einer Frau zu sprechen, die die gefährliche Reise nach Sliviia gewagt hatten. Alle hatten ihm das Gleiche berichtet: Die Sliviiter wollten zur Bellanbucht segeln, eine der größten Buchten an der Küste. Es erschien wahrscheinlich, dass eine so riesige Flotte einen Ort wie die Bellanbucht aufsuchen würde.
Dahmis merkte, wie unverzichtbar Vinedas Vorhersagen für ihn geworden waren. Ohne ihren Rat wollte er nicht entscheiden. Er war weit gereist, um ihr nahe zu sein. Und nun war ihre Hütte für ihn verschlossen. Als lebte sie auf der anderen Seite des Ozeans. „Gott helfe uns", betete er. Über ihm schien der Mond und antwortete nicht.
Vesputo
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