Das Auge der Seherin
brachte sie ihr Pferd zum Stehen.
Zwei Bauern, die sie kaum kannte, kamen ihr entgegen. Sie lenkte Justina an die Seite, um sie vorbeizulassen. Aber als sie auf ihrer Höhe waren, blieben sie stehen und starrten sie an. Torina wartete, dass sie weitergingen, eine böse Vorahnung dämmerte in ihr auf. „Vineda?", fragte der eine.
Die Sonne stand schon tief, aber nicht so tief, dass sie sie nicht hätten erkennen können. Torina sah in das zerfurchte Gesicht des Bauern. „Was gibt's?"
„Bist du's, Vineda?", fragte er wieder. ,Ja, natürlich."
„Also, Mädchen, du bist ja eine Schönheit. Ich glaube, ich habe dich noch nie ohne Kopftuch gesehen." Torina hob den Arm und fasste sich an die verschwitzten Haarsträhnen. Das Kopftuch war fort. Wann hatte sie es verloren? Wahrscheinlich bei dem Ritt. Jetzt hatten sie sie gesehen. Wenn jemand nach einer rothaarigen Frau fragte, könnten sie antworten. Sie um Stillschweigen zu bitten, hatte keinen Zweck. Das würde im Dorf nur noch mehr Gerede geben.
„Danke", sagte sie stockend und lenkte Justina von der Straße weg. „Ich muss jetzt weiter." Ohne sich noch einmal umzusehen, trabte sie zwischen den Bäumen von dannen.
Jahrelang hatte sie ihre Haare versteckt. Und in einem einzigen, unvorsichtigen Augenblick war alle Heimlichtuerei umsonst gewesen. Aber was soll's! Nach so langer Zeit werden Vesputo und auch alle anderen denken, ich sei tot. Eine schwere, unheilvollen Wolke ballte sich über ihr zusammen. Nervös schaute sie sich um. Dann prasselten Regentropfen auf ihr unbedecktes Haupt, Blitze zerschnitten die Luft und wütend brüllte der Donner. Justina stemmte sich gegen den peitschenden Wind und Torina war bald bis auf die Haut durchnässt. Aber auch als sie nach Hause kamen, fand Torina keinen Trost. Im dunklen Stall rieb sie Justina ab. Alles, was sie sah, alles was sie tat, kam ihr tot und verlassen vor. „Wir müssen von hier fort", sagte Torina plötzlich entschlossen. „Wir können hier nicht länger bleiben, hier, zwischen den Welten. Wir werden nach Desan ziehen."
Torina taumelte durch den heulenden Sturm zu ihrer Hütte. Drinnen entfachte sie mit bebenden Händen ein Feuer, während Wind und Regen das ganze Haus erschütterten. Dann sank sie von Fieber geschüttelt auf ihrem Stuhl zusammen.
Vesputo hielt die Zeit für gekommen, das Schwert von Bellandra endlich einzusetzen. Dank seiner Machenschaften sammelten sich die mächtigsten Streitkräfte der verbündeten Königreiche alle an einem Ort, auf seinem Territorium. Das war der günstigste Zeitpunkt, sie zu zerschlagen.
Kareed hat das Schwert nie benutzt. Er belächelte den Zauber von Bellandra und bot ihm die Stirn, aber er fürchtete trotzdem, den Fluch auf sich zu ziehen.
Damals, als sie das Schwert im Verlies versteckt hatten, hatte ihn Kareeds Warnung, das Schwert bringe Unheil über jeden, der es zum Kampf benutze, tief beeindruckt. Doch der bloße Anblick der Zauberwaffe hatte gereicht, seinen Ehrgeiz fast ein Jahrzehnt lang anzustacheln. Der Legende nach war der Benutzer des Schwertes unbesiegbar. Der Gedanke an seinen Fluch hatte allmählich seinen Schrecken für Vesputo verloren. Das Schwert hatte die ganze Zeit über unberührt in seinem Versteck gelegen, seine Macht konnte sich nur in der Hand eines Menschen entfalten.
Kareed fehlte der Mut, das Schwert hervorzuholen und zu nutzen. Aber ich habe die Kraft dazu. Mir hat das Schicksal diese Waffe in die Hand gelegt.
Vesputo war überzeugt, dass König Veldon, dieser alte Friedensnarr, nur besiegt worden war, weil er niemals das Schwert zur Verteidigung seines Landes gezogen hatte. Er hatte allein auf den Ruf des Schwertes vertraut, um die Feinde zu vertreiben. Das Schwert war zum letzten Mal vom Ururgroßvater Veldons, König Landen dem Ersten, in einer Schlacht benutzt worden. Dass dessen Nachkomme und Namensvetter noch als Kind aus seinem Land vertrieben worden war, war eine Ironie der Geschichte.
Landen. Der Gedanke an ihn gärte in Vesputo immer weiter. Der Mann war im tiefsten Verlies des Schlosses eingesperrt gewesen und entflohen. Und mit ihm war der Kopfgeldjäger verschwunden. Vesputo fragte sich oft, welche Rolle der geheimnisvolle Corbin dabei gespielt hatte. Steckte er mit Landen unter einer Decke? Eine andere Erklärung gab es nicht. Aber warum sollte Landen sich freiwillig in Gefangenschaft begeben? Außer Vesputos Ring war nichts entwendet worden, nur ein paar graue Hengste, bestimmt kein Grund, Freiheit und Leben
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