Das Auge der Seherin
starrte Torina in die Kugel, doch die abscheuliche Vision war keine Täuschung, die beiden Könige nickten einander lächelnd zu. „Das kann nicht sein, bitte, das darf nicht sein", rief sie und hätte die Kugel am liebsten ins Feuer geworfen und zugeschaut, wie sie in der Hitze zersprang. „Nein, nein, bitte", stöhnte sie, während der Oberkönig und der Mörder ihres Vaters lächelnd einander zutranken. Torina sprang auf und warf den Kristall auf den Stuhl, als hätte sie sich daran verbrannt. Mit zitternden Fingern nahm sie die Schriftrolle, löste die Bänder, zerknüllte den Brief und warf ihn ins Feuer. Als die Flammen sich seiner bemächtigten, sank sie auf ihrem Stuhl zusammen, verzweifelt vor Zorn und Einsamkeit. Während draußen der Winter um ihre Hütte heulte, war ihr, als häufe sich alles Eis der Welt auf ihr armes Herz.
Dahmis beobachtete den Aufmarsch seiner Soldaten, seine Stirn war von Sorgen zerfurcht. Seine Späher brachten ihm jeden Tag neue Nachricht über die Aufrüstung der Sliviiter.
Tausende und Abertausende von Söldnern standen unter sliviitischem Kommando und schärften ihre Klingen. Heerscharen von Sklaven lernten riesige Schiffe zu steuern, hochnäsige Hauptleute drillten ihre Männer von früh bis spät.
Doch immer noch war nicht bekannt, wo sie zuschlagen wollten. Sorgen machte ihm auch, dass Vineda seit drei Wochen keine Nachricht mehr geschickt hatte. Das war nicht ihre Art. Hatten die Männer, die nach ihr suchten, sie gefunden und entführt oder gar getötet? Dahmis gestand sich nicht gerne ein, wie sehr die liebliche Wahrsagerin seine Gedanken beherrschte. Er musste jetzt an seine Truppen denken, an die Verbündeten, an Kriegslisten, anstatt kostbare Zeit mit Gedanken an Vineda zu vergeuden. Am liebsten hätte er einen zuverlässigen Kundschafter ausgeschickt, um herauszufinden, ob sie noch immer im Wald von Desante lebte, und er ärgerte sich, dass er ihr versprochen hatte, niemandem zu verraten, wo sie wohnte oder wer sie war. Als ob er wüsste, wer sie wirklich war. Wer wusste es überhaupt? Warum machte sie ein solches Geheimnis daraus? Mit ihren Gaben wäre sie auf jedem Schloss ein willkommener und gefeierter Gast. Sie aber lebte im Verborgenen, als hätte sie ein schreckliches Verbrechen begangen und fürchtete entdeckt zu werden. Sie ist viel zu jung, um auf all die Pracht verzichten zu wollen, die ihr ihre Schönheit bescheren könnte. Aber auch ihre Schönheit verbirgt sie unter hässlichen Kleidern und Tüchern. Warum ist ihr öffentliche Bewunderung so verhasst? Er dachte an ihre zornigen Worte: „Ich kann nicht wie eine Gefangene in einem Schloss leben!" Welche junge Frau würde das Leben im Schloss des Oberkönigs, umringt von ehrfürchtigen Dienern, als Gefangenschaft bezeichnen ? Und dann dieser Satz, den sie mit kühler Verachtung und Trauer ausgesprochen hatte: „Ehrfurcht habe ich wohl. Aber nicht vor Königen!"
Dahmis schüttelte ratlos den Kopf und schickte nach Larseid. Als der General gekommen war, eröffnete ihm der König, dass er für einige Tage fortmüsse. „Aber Herr, der Rat der Könige!" „Bis dahin werde ich wieder hier sein." „Ich dachte, wir könnten ihn schon vorbereiten." „Das werden wir auch. Nur nicht am selben Ort. Verzeiht, mein Freund. Aber diese Reise ist sehr wichtig, auch wenn sie für alle ungelegen kommt." „Entschuldigt, Herr, aber kann nicht ein anderer diese Aufgabe übernehmen?"
„Nein, Larseid, keiner außer mir. Kommt, lasst uns mit Michal sprechen und die dringendsten Angelegenheiten vor meiner Abreise morgen früh gemeinsam besprechen."
Dahmis nahm ein schnelles Pferd aus seinem Stall und ritt in der Verkleidung eines Gesandten nach Desante. Seine Verkleidung sollte erklären, warum er eines der besten Pferde des Königreichs ritt. Er galoppierte über die Hauptstraßen, ohne von irgendjemandem angehalten zu werden. Eilige Botschaften zwischen den verbündeten Königen waren in dieser Zeit nichts Ungewöhnliches.
Todmüde kam der König zu Vinedas Hütte. Halb erwartete er, die Hütte verlassen vorzufinden. Die Gedanken, die ihn auf diese lange Reise geschickt hatten, schwirrten ihm durch den Kopf. War sie in Sicherheit?
Auf der Lichtung vor der dunklen, stillen Hütte stieg er ab. Er spähte durch ein Fenster und sah glühende Kohlen in der Feuerstelle. Im Stall fand er Justina, die zufrieden am Stroh knabberte. Dahmis entschloss sich zu warten.
Wenn Vineda nicht bald zurückkam, wollte er im Bauernhaus
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