Das Auge der Ueberwelt
»Nun, da sehe ich kaum eine Möglichkeit. Unterdessen solltet Ihr an unseren Lustbarkeiten teilnehmen. Ihr seid eine stattliche Erscheinung, und verschiedene Prinzessinnen haben Euch bereits sehnsuchtsvolle Blicke zugeworfen. Da ist zum Beispiel die liebliche Udela Narshag und dort Zokoxa, begleitet von der temperamentvollen Ilviu Lasmal. Ihr müßt nicht rückständig sein; hier in Smolod führen wir ein ungezwungenes Leben.«
»Der Liebreiz dieser Damen ist mir nicht entgangen«, sagte Cugel. »Unglücklicherweise bin ich durch ein Enthaltsamkeitsgelübde gebunden.«
»Unglücklicher!« rief der Älteste. »Die Prinzessinnen von Smolod sind unvergleichlich!«
Cugel verabschiedete sich mit einer Verbeugung. Als er über den Platz ging, kam ihm Bubach Angh entgegen, mit Harnisch, Sturmhaube und Schwert kriegerisch aufgeputzt. Er sprach mit dem Ältesten, dann kamen sie beide zu Cugel. »Bedauerliche Umstände«, verkündete der Älteste bekümmert. »Bubach Angh spricht für das Dorf Grodz. Er erklärt, daß keine Lebensmittel mehr geliefert würden, bis ihm Gerechtigkeit widerführe. Darunter verstehen er und seine Freunde die Übergabe Eurer magischen Halbkugel an Bubach Angh und die Auslieferung Eurer Person an einen Ausschuß für Recht und Ordnung, der dort drüben im Park wartet.«
Cugel lachte unbehaglich. »Was für verdrehte Ansichten! Ihr habt ihnen natürlich gesagt, daß wir Prinzen von Smolod eher Gras essen und die magischen Halbkugeln zerstören würden, als daß wir uns auf solche verabscheuungwürdigen Vorhaben einließen?«
»Ich versuchte Zeit zu gewinnen«, erwiderte der Dorfälteste, »denn ich denke, daß die anderen Prinzen von Smolod einer flexibleren Handlungsweise den Vorzug geben werden.«
Die Implikationen waren klar, und Firx begann sich besorgt zu regen. Um die Situation so nüchtern wie möglich einzuschätzen, bedeckte Cugel das rechte Auge mit der Klappe und blickte mit dem linken Auge umher.
Verschiedene mit Sicheln, Hacken und Knüppeln bewaffnete Bürger von Grodz warteten einige fünfzig Schritte entfernt. Offenbar bildeten sie den Ausschuß für Recht und Ordnung, von dem Bubach Angh gesprochen hatte. Cugel holte tief Atem und rannte. Der Dorfälteste rief ihm den Befehl nach, stehenzubleiben, doch Cugel kümmerte sich nicht um ihn. Er lief durch das Dorf und die Küste entlang, verfolgt vom Ausschuß für Recht und Ordnung.
Er lachte fröhlich. Seine Beine waren lang und sehnig, und er hatte einen langen Atem; die Bauern waren gedrungen und hatten schwerfällige Muskeln. Während sie eine Meile liefen, konnte er mit Leichtigkeit zwei hinter sich bringen. Er hielt inne und wandte sich um. Zu seiner Bestürzung sah er, daß Bubach Angh das Dorf auf einer direkteren Route verlassen hatte und im Begriff war, ihm den Weg abzuschneiden. »Warte, Vagabund, jetzt hab' ich dich!« schrie er und zog die Halbkugel vom Auge. »Dein letztes Stündlein ist gekommen, Halunke!«
Cugel steckte seine magische Augenschale in die Tasche und zog den Degen. Er mußte an Bubach Angh vorbei, und der andere war Argumenten nicht mehr zugänglich.
Bubach Angh stürzte sich auf Cugel. Er verstand nichts vom Fechten und hackte und stieß blindlings drauflos, aber die Gewalt seines Angriffs war so groß, daß Cugel alle Mühe hatte, sich seiner Haut zu wehren. Dann glitt Bubach Angh aus und fiel auf den Rücken. Im Sturz öffnete er unwillkürlich die linke Hand, und seine Halbkugel wurde zu Boden geschleudert, wo sie an einem Stein zersprang. Bubach Angh heulte in wilder Verzweiflung auf, den entsetzten Blick auf die Splitter der magischen Halbkugel fixiert. Bevor er aufspringen und sich von neuem auf Cugel stürzen konnte, nutzte dieser seine Chance und suchte das Weite. Er floh über die öden Flächen parallel zum Meeresufer, und die Leute von Smolod und Grodz brüllten ihm Flüche und Verwünschungen nach. Bald gaben auch die Eifrigsten unter ihnen die Verfolgung auf. Als Cugel schließlich stehenblieb und zurückblickte, sah er sich allein. Er begann in südöstlicher Richtung die Küste entlangzuwandern, den langen Weg zurück nach Almery.
2.
Der Sonnenuntergang über den Ödländern des Nordens war traurig und düster. Das Zwielicht kam, und Cugel mühte sich durch einen Salzsumpf.
Im Osten waren niedrige Hügel; auf diese hielt Cugel zu, von Grasbüschel zu Grasbüschel springend und leichtfüßig über den verkrusteten Schlamm laufend. Hin und wieder glitt er aus und schlug
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