Das Auge des Basilisken
Pug‹«, las er vor, »›der am 24. Juni 1754 aus diesem Leben schied.‹ Vielleicht ein kleines Kind, obwohl es eigenartig ist, nur den Spitznamen anzugeben. Und es hier zu begraben, oder vielmehr nicht zu begraben … Möchtest du in einer Kirche heiraten?«
»Nun ja, wenn wir können, aber vielleicht geht es nicht.«
»Hm.«
Sie erriet seine Gedanken. »Ich hörte, der Abendgottesdienst war kein Erfolg.«
»Wir haben heute einige Teilnehmer befragt. Sie sagten, der Gesang habe ihnen gefallen, aber sie hätten nicht verstanden, wovon der Pfarrer redete.«
»Ach du lieber Gott! Er ist sehr alt, nicht wahr?«
»Der Besuch der Ausstellung bildender Künste ist auch sehr schlecht gewesen, und einige der Gemälde sind beschmiert und von den Wänden gerissen worden. Mir graut vor dem Musikabend.«
»Wann ist der?«
»Morgen. Wenn ich nur wüßte, was wir falsch gemacht haben.«
»Ihr hattet alle anderes im Kopf.«
»Ja.« Es klang nicht überzeugt.
»Sind alle für Sonntag bereit?«
»Jeder so gut wie er kann.«
Nina verspürte plötzlich eine quälende Ungläubigkeit wie eine Leere inmitten ihres Lebens und ihrer Gefühle; könnte es wieder eine unfreiwillige Botschaft von Theodor gewesen sein? Die Vorstellung, daß die ganze Welt an einem einzigen Tag verändert werden sollte, erschien ihr auf einmal, als höre sie davon zum ersten Mal. Sie sollte glauben, daß es im Umkreis weniger Kilometer Hunderte von wohlanständig scheinenden Leuten gebe, zu denen auch der sanfte junge Mann zählte, mit dem sie sprach, die eines schönen Tages plötzlich Waffen hervorziehen, wichtige Amtspersonen festnehmen, öffentliche Gebäude besetzen und Befehle geben würden. Und wer sagte, daß man ihnen gehorchen würde? Das schien ihr der schwierigste Teil davon. Sicherlich würde Direktor Vanag bloß lächeln, den Kopf schütteln und weiterarbeiten wie zuvor, wenn jemand versuchte, ihm Vorschriften zu machen. Sie setzte zur Rede an und brach wieder ab.
»Wie? Was ist?«
»Und das alles ist kein Scherz? Es wird eine Revolution geben?«
»Ein Scherz ist es nicht. Ob es eine Revolution geben wird oder nicht, ist wahrscheinlich eine Sache der Auslegung. Gegenwärtig sieht es mehr danach aus, als sollte es einfach eine friedliche und geordnete Machtübernahme geben. Der wichtige Teil, die eigentliche Arbeit, wird danach beginnen.«
Ehe sie etwas darauf sagen konnte, wurde ihre Aufmerksamkeit von Alexander abgelenkt, der in einigen hundert Metern Entfernung in Sicht gekommen war. Er führte Polly den sanft geneigten Hang vom Friedhof herauf und bewegte sich rasch und energisch, nicht in seinem üblichen verträumten Schlendern. Nina winkte ihm zu, und er hob die Hand ziemlich steif zur Antwort. Er war damit beschäftigt, die Stute anzubinden, als wie auf Verabredung die Gestalten von Elizabeth Cuy und einem braunlivrierten Diener aus dem Haus traten. Bei Alexanders Anblick eilte Elizabeth die Freitreppe hinab und umarmte ihn begeistert; sogar aus der Entfernung des Sommerpavillons war das Fehlen wirklicher Wärme in seiner Reaktion zu sehen. Noch ehe sie ihn losgelassen hatte, befahl er dem Diener, das Pferd zu den Ställen zu bringen; dann kam er auf den Sommerpavillon zu, Elizabeth unbeachtet an seiner Seite.
»Sie hört nicht auf, ihm nachzulaufen«, sagte Nina. »Ich könnte es nicht.«
»Warum tut sie es? Angenommen, du hast recht.«
»Es ist komisch, aber ich habe den Eindruck, daß sie von ihm abgewiesen werden will. In gewisser Weise ist das vielleicht einfacher als … Und sogar die Schimpfworte …«
»Was? Wie schön du aussiehst. Aber was sage ich da? Wie schön du bist.«
Sie sah wirklich vorteilhaft aus, glücklich, gesund und ganz und gar jung; zwar gab es in ihrem Gesicht Sommersprossen jede Menge, dafür suchte man nach Falten vergebens. Ihr ärmelloses Kleid war durch eine Fügung des Zufalls richtig geschnitten, und seine beiden Grüntöne paßten zu ihrer Hautfarbe, die in der Sonne heller denn je war. Ohne ein Wort stieg sie die Stufen hinauf, kam zu ihm in den Sommerpavillon, und sie küßten einander. Obwohl er nur sanft mit ihr umging, schien er ihr unendlich stark.
Sie saßen wieder auf den Stufen, als die anderen zwei am Pavillon anlangten. Alexanders Gesichtsausdruck war eigentümlich, ernst und sogar beunruhigt, aber Nina glaubte auch eine Art Gehobenheit oder Stolz darin zu lesen. Er wandte sich sofort zu Theodor und sagte:
»Die Information ist ausgeblieben.«
»Wurde ein Grund
Weitere Kostenlose Bücher