Das Auge des Basilisken
Es war ein schöner Septemberabend, ungewöhnlich warm für die Jahreszeit und etwas schwül. Wenige Menschen waren auf den Straßen; die meisten hatten sich bereits in ihre Häuser oder in die Unterkünfte zurückgezogen, die ihnen auf dieser von der Welt abgeschnittenen Insel als Zuhause dienten. Zwei Militärpolizisten, erkenntlich an ihren blauen Schulterriemen und Gamaschen, gingen langsam im Gleichschritt durch die Straße, die Hände auf dem Rücken. Alles war ruhig. Und doch sollte in zweiundsiebzig Stunden, oder vielmehr sechsundsiebzig Stunden, um genau zu sein, die Revolution losbrechen, die alles verändern würde, ausgelöst von seinem Schuß auf den eigenen Vater. Würde er dazu fähig sein? Er mußte; es nicht zu tun, würde vor ihm selbst und anderen ein Eingeständnis sein, daß er ein Müßiggänger sei, ein Wichtigtuer und Windbeutel. Es gab kein Zurück mehr.
Im Foyer des Theaters drängten sich erwartungsvolle Engländer; keiner von ihnen hatte am Vorabend das Theaterstück gesehen, da man nur Karten für das eine oder das andere hatte bekommen könne, aber alle hatten offenbar davon gehört. Einige Leute lasen den Analphabeten unter ihren Hörern zuliebe laut aus dem Programmzettel vor. Da und dort wurden Zweifel laut, ob eine Geschichte von der Art, wie sie hier summarisch wiedergegeben war, sehr lustig sein könne, aber die Zweifler faßten ein wenig Mut, als sie hörten, daß die Personen des Mercutio und der Amme von Sachverständigen als hervorragende Beispiele von Shakespeares Talent als Komödiendichter betrachtet würden.
Die Erscheinung vieler anwesender Männer hätte manchen unerfahrenen Beobachter in Erstaunen versetzt. Die Smokings, die sie trugen, waren meistenteils unvollständig; Knappheit und Lieferschwierigkeiten hatten verhindert, daß die passenden Hosen rechtzeitig fertig geworden waren. Nun gab es unter den Theaterbesuchern Männer wie Alexander, denen es gelungen war, unter ihren eigenen (meistens sehr kleinen) Garderoben etwas nicht allzu Unpassendes zu finden; andere aber hatten sich mit tweedähnlichen Stoffen oder Kord in verschiedenen Farben zufriedengeben müssen. Auch die Frauen sahen seltsam aus, wenn auch mehr im Kollektiv denn als Einzelpersonen. Die vorerwähnte Knappheit hatte zur Folge gehabt, daß fast alle das gleiche Kleid trugen, ein Kleidungsstück mit einem eng geschnittenen und eher kurzen Rock (um Material zu sparen), einem nicht sehr kleidsamen runden Kragen und ohne Ärmel (hart für die älteren Damen). Dennoch hatte eine totale Gleichförmigkeit sozusagen in letzter Minute abgewendet werden können: genau die Hälfte der Kleider waren von einem elektrischen Blau, während die anderen smaragdgrün waren, was ihren Trägerinnen den Anschein gegnerischer Mannschaften verlieh, die sich anschickten, eine wenig bekannte Sportart auszuüben. Die jüngeren Leute waren in der Minderzahl und hatten die Bar im Erdgeschoß besetzt. Stärkere Getränke als Bier wurde nicht verkauft, trotzdem wurden da und dort Spirituosen getrunken, die man in kleinen Flaschen aller Art mitgebracht hatte. Das Ergebnis war, daß sich alsbald eine gewisse Pöbelhaftigkeit auszubreiten begann.
Ein Klingelsignal erzeugte augenblicklich Stille. Ertönte ein Klingelsignal, so bedeutete es, daß die Obrigkeit zur Aufmerksamkeit aufrief, und viele von denen, die sich in Bar und Foyer versammelt hatten, erinnerten sich noch lebhaft einer Zeit, da es empfehlenswert gewesen war, einem solchen Signal augenblicklich Folge zu leisten. Aber diesmal sprach sich rasch herum, daß nichts anderes verlangt wurde als die Plätze einzunehmen. Dieser Prozeß zog sich länger hin, als es einst üblich gewesen wäre, da zahlreiche Einzelbesucher und Paare des Lesens nicht mächtig waren. Schließlich aber war es geschafft, und abermals trat relative Stille ein, akzentuiert von einem verbreiteten Papiergeraschel, als mehrere hundert in farbiges Glanzpapier gehüllte Schokoladetafeln, eine auf jedem Platz, aufgerissen und untersucht wurden. Ein russischer Forscher von ungewöhnlicher Belesenheit war auf die (ironisch gemeinte) Bemerkung gestoßen, daß der Schokoladenverzehr ein zwanghafter Bestandteil englischer Theateraufführungen sei. Die zum heutigen Anlaß bereitgestellten Tafeln bestanden aus einer süßen, nicht ganz festen Masse von ungewissem Aroma, fanden aber großen Anklang bei Männern und Frauen, die in der Mehrzahl ein frühes Abendessen aus der üblichen Gemüsesuppe, Schweinebauch
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