Das Auge des Leoparden
den Beinen, das ihm nachts den Schlaf raubt. Er hat Ärzten und hochgewachsenen Medizinmännern sein Leiden gezeigt, ohne daß sie ihm helfen konnten. Als er zudem erfährt, daß die meisten seiner inneren Organe von diversen Parasiten befallen sind, wird ihm klar, daß ihm nicht mehr viel Zeit bleibt.
Anfang der zwanziger Jahre war er als Vertreter für schwedische Kugellager in die Welt gezogen. In Südafrika blieb er dann hängen. Vor den nächtlichen Geräuschen und endlosen Ebenen des Transvaal verschlug es ihm die Sprache. Nach einiger Zeit kehrte er den Kugellagern den Rücken, gründete unter dem Namen
Hunters unlimited
ein Büro für Großwildjagden und nahm den Namen Stone an. Aber seine Waffen kauft er stets bei Wickberg, und einmal im Jahr reist er nach Schweden. Nach Tibro, um die Gräber seiner Eltern zu pflegen, und nach Stockholm, um Waffen einzukaufen. Nun steht er im Geschäft und erzählt. Als er geht, weiß Hans Olofson, daß es schwarze Löwen gibt …
Stone erzählt an einem Tag Mitte April 1969 aus seinem Leben.
Zu dieser Zeit pendelt Hans Olofson seit neun Monaten zwischen Uppsala und Stockholm, zwischen einem Studium für die Zukunft und dem täglichen Auskommen. Aber auch nach neun Monaten hat er noch immer das Gefühl, sich auf feindlichem Territorium zu bewegen. Als ob er ein illegaler Einwanderer aus dem Norden wäre, ständig in Sorge, entlarvt und in die Heimat zurückgeschickt zu werden.
Als er die Provinzhauptstadt verließ, hatte er gehofft, endlich seine ganz persönliche Eisenzeit zurückzulassen. Die Werkzeuge waren kalt und scharf gewesen, die Fragen der Lehrer hatten über seinem Kopf gehangen wie zum Schlag erhobene Äxte. In den vier Jahren am Gymnasium blieb er der Gnade der Lehrer ausgeliefert. Den Geruch der Elchhunde hatte er nicht abschütteln können, das möblierte Zimmer mit seinen geblümten Tapeten hatte sich in ihm festgesetzt. In dieser blankgescheuerten Leere fand er nur wenige Freunde. Aber er hatte durchgehalten und machte schließlich ein Abitur, mit dem er alle in Erstaunen versetzte, am meisten sich selbst. Die Noten spiegelten in seinen Augen nicht seinen Wissensstand wider, sondern nur sein Stehvermögen, als wäre er ein Querfeldeinläufer oder Leichtathlet.
In diesen Jahren entsteht auch der Gedanke an ein Jurastudium. Da er nicht als Holzfäller enden möchte, könnte er vielleicht Jurist werden. Er ahnt, daß die Rechtswissenschaft ihm mit dem nötigen Werkzeug zum Überleben versorgen könnte. Die Gesetze sind seit Generationen erprobte und ausgelegte Regeln. Sie definieren die Grenzen des Erlaubten und bestimmen, auf welchen Pfaden der Unantastbare wandeln darf. Aber vielleicht liegt in ihnen noch ein weiterer Horizont verborgen. Könnte er nicht zu einem vereidigten Fürsprecher der mildernden Umstände werden?
Mein ganzes Leben sollte unter mildernden Umständen bewertet werden, denkt er. Meine familiären Verhältnisse waren nicht unbedingt geeignet, mir Selbstvertrauen zu geben oder mich zielstrebig werden zu lassen. Statt dessen versuche ich, mich möglichst unauffällig auf feindlichem Gebiet zu bewegen. Vielleicht kann ich wenigstens eins als mildernden Umstand anführen: daß ich mich aus meinen Verhältnissen gelöst habe. Aber warum bin ich nicht geblieben? Warum habe ich nicht einen Spaten ergriffen, Wurzeln untergegraben und eine der Lucia-Jungfern geheiratet.
Mein elterliches Erbe besteht aus einem verstaubten Vollschiff in einer Glasvitrine, dem Geruch nasser Wollsocken, die über dem Herd trocknen, einer Mutter, die es nicht mehr aushielt und mit dem Zug Richtung Süden verschwand, und einem verlorenen Seemann, dem das Kunststück gelungen ist, an einem Ort an Land gespült zu werden, wo es kein Meer gibt.
Als Verteidiger der mildernden Umstände könnte ich vielleicht unentdeckt bleiben, denn ein Talent wird man mir nicht absprechen können: Ich bin ein Meister in der Kunst, den besten Unterschlupf zu finden.
Für den Sommer nach seinem Abitur in der Provinzhauptstadt kehrt er in das Haus am Fluß zurück. Am Bahnhof holt ihn niemand ab, und als er daheim die Küche betritt, riecht es nach Scheuerpulver, und sein Vater sitzt am Tisch und starrt ihn mit glasigen Augen an.
Er denkt, daß er seinem Vater immer ähnlicher wird. Das Gesicht, die verfilzten Haare, der gebeugte Rücken. Aber gleiche ich ihm auch innerlich? Wo werde ich einst an Land gespült werden?
Auf einmal fühlt er sich verantwortlich für seinen Vater, der
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