Das Auge des Leoparden
Seifenblasen. Er hat sich eingebildet, ein Mensch mit einem gebrochenen Rückgrat wäre demütig und wortkarg und ganz bestimmt nicht so wütend.
»Setz dich«, sagt Sture, als wollte er ihm aus seiner Verlegenheit helfen.
Hans Olofson hebt einen Stapel Bücher von einem Stuhl und setzt sich.
»Zehn Jahre läßt du mich hier warten«, fährt Sture fort. »Zehn Jahre. Anfangs war ich vor allem enttäuscht, die ersten zwei Jahre vielleicht. Seitdem bin ich vor allem wütend auf dich gewesen.«
»Ich kann dir keine Erklärung geben«, erwidert Hans Olofson. »Du weißt ja, wie so etwas ist.«
»Woher soll ich denn verdammt noch mal wissen, wie so etwas ist? Ich liege doch hier.«
Mit einem Lächeln fährt er fort: »Immerhin bist du gekommen. An diesen Ort, wo die Dinge sind, wie sie eben sind. Wenn ich die Aussicht genießen möchte, stellen sie einen Spiegel auf, damit ich in den Garten sehen kann. Seit meiner Ankunft ist das Zimmer zweimal gestrichen worden. Anfangs haben sie mich noch in den Park gerollt. Aber das wollte ich dann nicht mehr. Mir geht es hier am besten. Ich bin ein wenig bequem geworden. Nichts hindert jemanden wie mich daran, sich dem Müßiggang hinzugeben.«
Hans Olofson lauscht verdattert und spürt die Willensstärke, die Sture in seinem Bett ausstrahlt. Während ihm alles immer unwirklicher vorkommt, hat Sture trotz seiner furchtbaren Behinderung eine Kraft und Entschlossenheit entwickelt, von der er selber weit entfernt ist.
»Natürlich ist die Verbitterung mein treuer Knappe«, sagt Sture. »Jeden Morgen, wenn ich aus meinen Träumen erwache, jedesmal, wenn ich ins Bett mache und es anfängt zu stinken. Jedesmal, wenn ich aufs neue einsehen muß, daß ich nichts tun kann. Das ist wahrscheinlich das schlimmste, keinen Widerstand leisten zu können. Mein Rückgrat ist gebrochen, das ist wahr. Aber auch in meinem Kopf ist etwas kaputtgegangen. Ich habe Jahre gebraucht, um das zu verstehen. Aber als ich es dann erkannt hatte, arbeitete ich einen Plan für mein Leben aus, dessen Grundlage meine Möglichkeiten waren, nicht meine Unfähigkeit. Ich beschloß, bis zu meinem dreißigsten Geburtstag zu leben, also noch ungefähr fünf Jahre. Bis dahin werde ich meine Weltanschauung gefunden und ein abgeklärtes Verhältnis zum Tod entwickelt haben. Mein einziges Problem ist, daß ich das Ganze nicht selber beenden kann, weil ich gelähmt bin. Aber mir bleiben ja noch fünf Jahre, um das Problem zu lösen.«
»Was ist damals eigentlich passiert?« fragt Hans Olofson.
»Ich erinnere mich nicht. Die Erinnerung daran ist ausgelöscht. Ich erinnere mich an alles, was vorher war, und ich erinnere mich an mein Erwachen in diesem Sanatorium. Das ist alles.«
Plötzlich fängt es im Zimmer an zu stinken, und Sture drückt mit der Nase eine Klingel. »Geh mal kurz raus. Ich muß saubergemacht werden.«
Als er zurückkehrt, trinkt Sture durch einen Strohhalm ein Bier. »Manchmal trinke ich auch Schnaps«, sagt er. »Aber das sehen sie hier nicht gerne. Es ist lästig, wenn ich mich übergebe. Außerdem werde ich dann gelegentlich etwas ausfallend den Schwestern gegenüber. Ich revanchiere mich eben für das, was ich nicht tun kann.
»Janine«, sagt Hans Olofson. »Sie ist gestorben.«
Sture bleibt lange stumm.
»Woran ist sie gestorben?« fragt er schließlich.
»Sie hat sich doch noch ertränkt.«
»Weißt du, wovon ich immer geträumt habe? Sie auszuziehen, mit ihr zu schlafen. Bei dem Gedanken, daß ich es nie getan habe, kann ich heute noch wahnsinnig wütend werden. Hast du dir das nie vorgestellt?«
Hans Olofson schüttelt den Kopf und greift schnell nach einem Buch, um das Thema zu wechseln.
»Bei meiner Erziehung wäre ich normalerweise nie auf die Idee gekommen, die radikalen Philosophen zu studieren«, sagt Sture. »Ich träumte vielmehr davon, der Leonardo unserer Zeit zu werden. Ich war mein eigenes Sternbild in einem privaten Kosmos. Aber mittlerweile weiß ich, daß die Vernunft das einzige ist, was mich tröstet. Und der Stimme der Vernunft zu folgen heißt einzusehen, daß man allein stirbt, vollkommen allein, jeder von uns, auch du. Ich versuche beim Schreiben immer daran zu denken. Ich spreche auf Band, andere schreiben es ins reine.«
»Was schreibst du?«
»Ich schreibe über eine gebrochene Wirbelsäule, die in die Welt hinauszieht. Abramovitj sieht nicht gerade begeistert aus, wenn er liest, was die Mädchen getippt haben. Er versteht nicht, was ich sagen will, und das
Weitere Kostenlose Bücher