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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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die es trotz allem geben mag.
    Aber er kann sich ihm nicht stellen. Er ist zu allein, zu schlecht gerüstet.
    Plötzlich steht er auf und geht. Hinter seinem Rücken hört er Hans Fredström grinsen und fragt sich, wie man den Gesichtsausdruck eines Menschen hören kann.
    Rastlos läßt er sich durch die Stadt treiben, läuft ziellos umher. Sein Kopf ist so leer wie die leerstehenden Säle in einem verfallenen Palast. Anfangs glaubt er, daß es in seinem Innern nur abblätternde Tapeten und das Echo seiner eigenen Schritte gibt.
    Aber in einem der Räume liegt Sture in seinem Bett, und ein dickes schwarzes Rohr ragt aus seinem Hals. Die Eisenlunge umschließt ihn mit ihren glänzenden Flügeln, und er hört ein Zischen wie von einer Lokomotive, die Dampf abläßt. Durch einen anderen Raum hallt ein Wort, Mutshatsha, Mutshatsha, und es ist gut möglich, daß er sogar die leisen Töne von »Some of these days« hört.
    Spontan beschließt er, Sture zu besuchen und ihn tot oder lebendig wiederzusehen.
    Wenige Tage später ist er in Västervik. Am späten Nachmittag steigt er aus dem Bus aus Norrköping, der nach Kalmar weiterfahren wird. Sofort riecht er das Meer, und als wäre er ein Insekt, das sich von seinem Geruchssinn leiten läßt, treibt es ihn nach Slottsholmen hinaus.
    Der Herbstwind weht vom Meer herein, als er an den Stegen vorbeischlendert und sich die Boote anschaut. Ein einzelnes Segelboot nimmt Kurs auf den Hafen, und die Segel schlagen im Wind, als eine Frau sie einholt …
    Er findet keine Pension, und in einem Anfall von Leichtsinn nimmt er sich ein Zimmer im Stadthotel. Durch die Wand hört er jemanden aufgebracht reden und stellt sich einen Mann vor, der für eine Rolle in einem Theaterstück probt.
    An der Rezeption hilft ihm ein freundlicher Mann mit einem Glasauge, auf der Karte das Sanatorium zu finden, in dem Sture untergebracht sein könnte.
    »Die Tannenhöhe«, sagt der Mann mit dem Glasauge. »Das muß es sein. Dort bringt man alle unter, die nicht das Glück hatten, auf der Stelle tot zu sein. Autounfälle, Motorradunfälle, Querschnittsgelähmte. Das ist es bestimmt.«
    Als Hans Olofson am nächsten Morgen dort eintrifft, erkennt er, daß Tannenhöhe ein irreführender Name ist. Der Wald endet hier, und vor ihm liegt, umgeben von gepflegten Blumenbeeten, ein Gutshaus, hinter dessen Gebäudeflügeln das Meer zu erkennen ist. Vor dem Haupteingang sitzt ein Mann, der keine Beine mehr hat, in einem Rollstuhl. Der Mann ist in eine Decke gehüllt und schläft mit offenem Mund.
    Hans Olofson betritt das Gebäude durch die hohen Eingangstüren und denkt, daß dieses Sanatorium an das Gerichtsgebäude erinnert, in dem Sture früher gewohnt hat. Man zeigt ihm den Weg zu einem kleinen Büro. Dort leuchtet eine grüne Lampe, und er steht einem Mann gegenüber, der sich als Herr Abramovitj vorstellt. Der Mann spricht mit gedämpfter, kaum vernehmbarer Stimme, und Hans Olofson überlegt, daß es seine Lebensaufgabe ist, die Stille zu behüten.
    »Sture von Croona«, flüstert Herr Abramovitj. »Er ist jetzt zehn Jahre oder sogar noch länger bei uns. Aber an Sie kann ich mich nicht erinnern. Ich nehme an, Sie sind ein Verwandter?«
    Hans Olofson nickt.
    »Ein Halbbruder«, sagt er.
    »Manche Menschen sind beim ersten Besuch ein wenig schockiert«, flüstert Herr Abramovitj. »Er ist natürlich blaß und ein wenig aufgedunsen vom ständigen Liegen. Ein gewisser Krankenhausgeruch läßt sich leider auch nicht völlig vermeiden.«
    »Ich möchte ihn gern besuchen«, erwidert Hans Olofson. »Ich habe eine weite Reise gemacht, um ihn zu sehen.«
    »Ich werde mit ihm sprechen«, sagt Herr Abramovitj und steht auf. »Wie war noch der Name? Hans Olofson? Ein Halbbruder?«
    Als er wiederkommt, ist alles geklärt. Gemeinsam gehen sie einen langen Korridor hinab und bleiben vor einer Tür stehen. Herr Abramovitj klopft an. Ein gurgelnder Laut ist die Antwort.
    In dem Zimmer, das Hans Olofson nun betritt, ist nichts, wie er es sich vorgestellt hat. Die Wände sind voller Bücherregale, und mitten im Raum, umgeben von Zimmerpflanzen in hohen Blumentöpfen, liegt Sture in einem blauen Bett. Aber weder ragt ein Rohr aus seinem Hals, noch hüllt ein riesiges Insekt das blaue Bett mit seinen Flügeln ein.
    Die Tür schließt sich lautlos hinter ihm und sie sind allein.
    »Wo zum Teufel hast du gesteckt?« fragt Sture mit heiserer Stimme, der man dennoch die Wut anhört.
    Hans Olofsons Vorstellungen zerplatzen wie

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