Das Auge des Leoparden
ein Mensch, der nie auffiel. Ich hoffte, Jurist zu werden, ein vereidigter Verteidiger der mildernden Umstände. Ein gutes Jahr lang lebte ich zur Untermiete in einer dunklen Wohnung in Uppsala, wo mir jeden Morgen ein Verrückter beim Frühstück gegenübersaß. Verwirrung, Lustlosigkeit und Furcht der schwedischen Arbeiterklasse von heute haben in mir einen würdigen Vertreter.
Trotzdem habe ich nicht aufgegeben. Das gescheiterte Jurastudium war nur eine vorübergehende Demütigung, damit kann ich leben.
Aber kann ich auch damit leben, daß mir ein Traum fehlt? Daß ich mit dem Traum einer anderen, eines verstorbenen Menschen nach Afrika reise? Anstatt aufzubrechen, verirre ich mich auf eine Pilgerreise wie ein Büßer, als wäre Janines Tod letzten Endes meine Schuld.
Eines Tages kletterte ich über den kalten Stahlbogen der Brücke, die über den Fluß führt, und war vollkommen allein mit mir selbst. Ich war vierzehn, und ich fiel nicht. Aber später, als Sture mir folgen wollte …
Seine Gedanken wurden unterbrochen. Von irgendwoher drang das Schnarchen eines Menschen, vermutlich vom Dach des Waggons.
Plötzlich wütend, formuliert er zwei Möglichkeiten: entweder sein Jurastudium fortzusetzen oder aber in die kalte Landschaft seiner Kindheit zurückzukehren.
Die Reise nach Afrika, zur Missionsstation in Mutshatsha, wird verblassen. Im Leben jedes Menschen gibt es unüberlegte Handlungen und Reisen, die niemals nötig gewesen wären. In zwei Wochen wird er nach Schweden zurückkehren, das Kreuz des Südens hinter sich lassen und dieses Intermezzo beenden.
Jetzt steht Werner Masterton an seiner Seite und schaut in die Dunkelheit hinaus. »Sie verkaufen Diesel«, sagt er. »Ich hoffe nur, daß sie sich nicht verschätzen und wir liegenbleiben. In weniger als einem Jahr würden die Wanderameisen diesen Zug in ein groteskes Stahlskelett verwandeln.
Eine Stunde später setzt sich der Zug wieder in Bewegung.
Später halten sie unerklärlich lange in Kapiri Mposhi. Im Morgengrauen schläft Hans Olofson ein. Einen Schaffner bekommt er nicht zu Gesicht. Als die morgendliche Hitze unerträglich zu werden droht, erreicht der Zug schaukelnd Kitwe.
»Begleiten Sie uns«, sagt Ruth Masterton. »Wir bringen Sie dann nach Kalulushi.«
E INES TAGES brachte Janine ihnen das Tanzen bei.
Die Leute erwarten von ihr, daß sie jammert und klagt, doch sie ist einen anderen Weg gegangen und sucht ihr Heil in der Musik. Sie beschließt, die Qual, die so tief in ihren Körper eingeschnitten ist, in Musik umzusetzen. In Hamrins Musikgeschäft erwirbt sie eine Posaune und übt täglich. Bis zuletzt versucht Hurra-Pelle sie zu einem gefälligeren Instrument zu überreden, einer Gitarre, einer Mandoline, eventuell auch einer kleineren Baßtrommel. Aber sie beharrt auf ihrem Willen und verzichtet auf die Freude, die es ihr wahrscheinlich bereiten würde, in der Baptistenkirche mit den anderen Gemeindemitgliedern zu musizieren, und übt allein in ihrem Haus am Fluß. Sie kauft ein Dux-Grammophon und stöbert oft und ausdauernd in den Schallplattenregalen des Musikgeschäfts. Sie ist begeistert vom Jazz, in dem die Posaune eine wichtige Rolle spielt. Janine hört zu, spielt mit und lernt. An dunklen Winterabenden, wenn sie ihre täglichen Runden von Haustür zu Haustür absolviert hat und in der Gemeinde weder eine Andacht noch eine andere Veranstaltung stattfindet, vertieft sie sich in ihre Musik. »Some of these days«, »Creole Love Call« – und nicht zuletzt »A Night in Tunisia« entlockt sie der Posaune.
Sie spielt Sture und Hans Olofson vor. Das erstemal beobachten die beiden sie verblüfft, als sie barfuß auf dem Küchenfußboden steht, das Grammophon im Hintergrund und das Messinginstrument an den Lippen. Manchmal löst sie sich von der Melodie, aber meist verweben sich ihre Töne mit dem Orchester, das in die Rillen der Schallplatte gepreßt ist.
Janine mit ihrer Posaune.
Janine mit ihrem Gesicht ohne Nase und ihrer unbegreiflichen Tat, den beiden Einlaß in ihr Haus zu gewähren, statt ihnen die Polizei auf den Hals zu hetzen, verwandelt das Jahr 1957 in ein Abenteuer. Die Jungen fragen sich, ob sie etwas Ähnliches noch einmal erleben werden.
Sture war der Umzug aus einer Stadt im südschwedischen Småland mit Dom und Verwaltungssitz in diesen nordschwedischen Marktflecken wie ein Alptraum erschienen. Im menschenleeren und eingeschneiten Nordschweden würde er untergehen, davon war er fest überzeugt gewesen. Aber
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