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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Abmahnung, sondern sofort, sie wäre auf der Stelle gefeuert worden. Ein dermaßen verdreckter Zug wie der, in dem wir unterwegs sind, wäre früher undenkbar gewesen. In ein paar Stunden erreichen wir Kabwe. Früher hieß es Broken Hill. Sogar der alte Name war besser. Wenn Sie unbedingt die Wahrheit hören wollen, nichts ist gleich geblieben oder gar besser geworden. Wir sind gezwungen, inmitten eines Verwesungsprozesses zu leben.«
    »Aber«, setzt Hans Olofson an, wird jedoch unterbrochen.
    »Ihr ›aber‹ kommt zu früh«, sagt Ruth Masterton. »Ich nehme an, daß Sie fragen wollen, ob es denn jetzt nicht wenigstens den Schwarzen bessergeht, aber auch das trifft nicht zu. Wer hätte denn die Europäer ersetzen sollen, die das Land 1964 verlassen haben? Darauf war man doch gar nicht vorbereitet, es gab nur einen schier grenzenlosen Übermut. Einen verhexten Schrei nach Unabhängigkeit, einer eigenen Fahne, vielleicht bald auch einer eigenen Währung.«
    »Verantwortung kann man nur übernehmen, wenn man über das nötige Wissen verfügt«, fährt Werner Masterton fort. »1964 gab es in diesem Land ganze sechs Schwarze mit einem Universitätsabschluß.«
    »Eine neue Zeit geht immer aus der Vergangenheit hervor«, wendet Hans Olofson ein. »Das Schulsystem muß schlecht gewesen sein.«
    »Sie gehen von falschen Voraussetzungen aus«, widerspricht Ruth Masterton. »Niemand stellte sich vor, was Sie so dramatisch eine neue Zeit nennen. Die Entwicklung würde einfach fortschreiten, allen würde es bessergehen, nicht zuletzt den Schwarzen, aber ohne daß es zu einem Chaos kommen würde.«
    »Eine neue Zeit bricht nicht von allein an«, beharrt Hans Olofson. »Was ist eigentlich geschehen?«
    »Man hat uns verraten«, erwidert Ruth Masterton. »Das Mutterland hat uns verraten, und wir haben viel zu spät gemerkt, daß man uns im Stich ließ. In Rhodesien haben sie es erkannt, und deshalb ist dort nicht alles derart schiefgelaufen wie hier.«
    »Wir kommen gerade aus Salisbury«, sagt Werner Masterton. »Dort konnten wir frei atmen. Vielleicht ziehen wir dorthin. Die Züge fuhren pünktlich, die Lampenschirme waren nicht voller Insekten. Die Afrikaner taten, was sie am besten können: gehorchen.«
    »Die Freiheit«, beginnt Hans Olofson und weiß dann nicht, wie er fortfahren soll.
    »Wenn Freiheit bedeutet, daß man hungert, sind die Afrikaner in diesem Land auf dem besten Wege zu ihr«, meint Ruth Masterton.
    »Das alles ist so schwer zu verstehen«, sagt Hans Olofson. »Schwer sich darauf einzulassen.«
    »Sie werden es ja erleben«, fährt Ruth fort und lächelt ihn an. »Wir haben keinen Grund, Ihnen den Stand der Dinge zu verschweigen, weil Sie früher oder später doch mit der Wahrheit konfrontiert werden.«
    Plötzlich hält der Zug. Die Bremsen quietschen, dann ist alles so still, daß man die Zikaden zirpen hört. Hans Olofson lehnt sich in die Dunkelheit hinaus. Der Sternenhimmel scheint zum Greifen nah, und sein Blick findet das helleuchtende Kreuz des Südens.
    Was hatte er sich denn vorgestellt, als er Schweden verließ? Daß er unterwegs zu einem weit entfernten, schwach leuchtenden Fixstern war?
    Ruth Masterton hat sich beim Schein ihrer Taschenlampe in ein Buch vertieft, Werner Masterton zieht an seiner erloschenen Pfeife. Hans Olofson hat das Gefühl, sich einen Überblick über seine Situation verschaffen zu müssen.
    Janine, denkt er. Janine ist tot. Mein Vater ist durch seine Sauferei ein Wrack geworden, das nie wieder in See stechen wird. Meine Mutter, das sind für mich zwei Fotografien des Ateljé Strandmark in Sundsvall. Zwei Bilder, die mich das Fürchten lehren, ein Frauengesicht vor einem Hintergrund aus unbarmherzigem Morgenlicht. Ich lebe mit einem Erbe aus Elchhundgerüchen, Winternächten und dem nie verebbenden Gefühl, im Grunde nicht gebraucht zu werden. Als ich beschloß, nicht in die Fußstapfen meines Vaters zu treten und Holzfäller zu werden und eines der Mädchen zu heiraten, mit denen ich zu den Klängen von Kringströms Orchester im zugigen Gewerkschaftshaus tanzte, entschied ich mich auch gegen die einzigen Ausgangspunkte, die ich hatte. Die mittlere Reife erwarb ich als ein Schüler, an den sich die Lehrer nie erinnern werden. Anschließend verbrachte ich vier schreckliche Jahre in der Provinzhauptstadt und wurde mit einem nichtssagenden Abitur dafür belohnt, daß ich nicht unterging. Ich leistete meinen Wehrdienst bei einem Panzerregiment in Skövde ab, und zwar erneut als

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