Das Auge des Leoparden
er fand einen Knappen, und gemeinsam fanden sie Janine.
Hans Olofson hat einen Traum, in den er sich wie in einen großen Mantel verkriechen kann. Ihm ist sofort klar geworden, daß er sie liebt, und in seinen Träumen schenkt er ihr eine Nase und verwandelt sie in eine Stellvertreterin seiner Mutter.
Auch wenn Janine beiden gehört, tauschen sie ihre Erlebnisse doch nie aus, denn alles kann man nicht teilen, manche Geheimnisse muß man wahren. Um sich auf den verschlungenen Pfaden des Lebens zurechtzufinden, muss man lernen, welche Träume man mit anderen teilen kann und welche man in den verborgensten Kammern seines Selbst verstecken muß.
Janine beobachtet, lauscht und ahnt. Sie erkennt Stures Neigung zu Arroganz und Herrschsucht, spürt Hans Olofsons Sehnsucht nach seiner fortgelaufenen Mutter. Sie sieht die Brüche, die großen Unterschiede.
Aber eines Abends bringt sie ihnen das Tanzen bei.
Kringströms Orchester, das seit 1943 ununterbrochen jeden Samstagabend zum Tanz aufspielt, hat trotzig den Fehdehandschuh der immer unzufriedener werdenden Jugend aufgenommen und widerstrebend begonnen, sein Repertoire zu verändern. Eines Samstags gegen Ende des Winters überraschen sie alle, nicht zuletzt sich selbst, indem sie ein Stück intonieren, das entfernt an die neue Musik erinnert, die aus den USA herüberschwappt.
Ausgerechnet an diesem Abend lungern Sture und Hans Olofson vor dem Gewerkschaftshaus herum. Sie können es kaum erwarten, alt genug zu sein, um eine Eintrittskarte zu lösen und sich auf die überfüllte Tanzfläche zu wagen. Durch die Wände dringt die Musik ins Freie, und Sture meint, daß sie nun endlich tanzen lernen sollten.
Am späteren Abend, durchgefroren und mit steifen Gliedern, streunen sie zur Brücke hinab, laufen um die Wette, brüllen unter dem stählernen Brückenbogen und bleiben erst vor Janines Tür wieder stehen.
Aus ihrem Haus dringt Musik. Sie spielt an diesem Abend …
Als sie begreift, daß die beiden tanzen lernen wollen, erklärt sie sich spontan bereit, es ihnen beizubringen. Bevor der Arzt ihr Gesicht verunstaltete, war sie oft tanzen gegangen. Seit der Operation hat sie sich allerdings mit keinem mehr über die Tanzfläche bewegt. Mit festem Griff um ihre Hüften und unnachgiebig wiederholten Links- und Rechtsschwüngen der Füße führt sie die beiden in die rhythmischen Schrittfolgen von Walzer und Foxtrott ein. Abwechselnd drückt sie die Jungen fest an sich und dreht sich mit ihnen auf dem Linoleumfußboden der Küche. Wer gerade nicht tanzt, bedient das Grammophon, und schon bald beschlagen die Fensterscheiben angesichts ihrer Bemühungen, die richtige Schrittfolge einzuhalten.
Plötzlich holt sie eine Flasche selbstgebrannten Schnaps aus dem Küchenschrank. Auf die Frage, woher sie den habe, antwortet sie nur mit einem Lachen. Sie bietet jedem ein kleines Glas an, sie selbst aber trinkt, bis sie betrunken ist. Sie steckt sich eine Zigarre an, bläst den Rauch aus dem Loch unter den Augen aus und ernennt sich zur einzigen weiblichen Lokomotive der Welt. Sie erzählt, daß sie sich manchmal vorstellt, Hurra-Pelles Büßerbank zu verlassen und in der Welt des Varietés zu verschwinden. Eine Primadonna auf dem Seil wird aus ihr wohl nicht mehr, aber immerhin ein Monster, das Abscheu und verbotene Gefühle weckt. Mißgeburten gegen Bezahlung vorzuführen ist eine Tradition, deren Anfänge sich in grauer Vorzeit verlieren. Sie erzählt von den Lachkindern, deren Mundwinkel man bis zu den Ohren aufschnitt, ehe man sie an Schausteller verkaufte, denen sie zu Wohlstand verhalfen.
Aus einer Küchenschublade holt sie eine rote Clownsnase, die sie sich mit einer Schnur um den Kopf bindet. Sprachlos betrachten die Jungen diese Frau, von der eine so widersprüchliche Ausstrahlung ausgeht. Am unverständlichsten und gleichzeitig beunruhigendsten ist, daß Janine ein solches Doppelleben führen kann.
Barfuß auf dem Küchenfußboden tanzen, Schnaps im Schrank. Die harten Bänke in Hurra-Pelles Kirche.
Aber ihre religiöse Umkehr ist nicht gespielt. Gott hat einen festen Platz in ihrem Herzen. Ohne die Gemeinschaft, die ihr die Kirchengemeinde damals bot, wäre sie nicht mehr am Leben. Das bedeutet noch lange nicht, daß sie sich zu allen Auffassungen der Gemeinde bekennt. Geld zu sammeln, um Missionare zu entfernten afrikanischen Bantuvölkern zu schicken, ist in ihren Augen nicht nur sinnlos, sondern auch ein schwerwiegender Verstoß gegen das Gebot, nach dem der
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