Das Auge des Leoparden
Glaube stets freiwillig sein muß. Wenn sich der weibliche Teil der Kirchengemeinde zum Kaffeekränzchen trifft, um immer neue Tischläufer für Wohltätigkeitsbasare zu produzieren, bleibt sie lieber zu Hause und näht ihre eigenen Kleider. Im Mikrokosmos der Gemeinde ist sie ein Unruheherd, aber solange sie im Alleingang für einen Großteil der jährlichen Einnahmen sorgt, hat sie keine Hemmungen, sich gewisse Freiheiten zu erlauben. Hurra-Pelle versucht zwar mit schöner Regelmäßigkeit, sie in den Schoß des Nähkreises zu führen, aber sie läßt ihn stets abblitzen, und aus Angst, sie könnte ihren Glauben wieder verlieren oder – noch schlimmer – ihren Gott in einer konkurrierenden Gemeinde suchen, tritt er gleich wieder den Rückzug an. Wenn sich Gemeindemitglieder über ihr eigenwilliges Verhalten beschweren, geht er mit ihrer Kritik streng ins Gericht.
»Das kleinste meiner Lämmer«, sagt er. »Bedenkt ihr Leiden. Bedenkt, wieviel Gutes sie für unsere Gemeinde tut …«
Die Abende mit Janine entwickeln sich in diesem Jahr zu einer langen Reihe außergewöhnlicher Seancen. Vor dem Hintergrund von »Some of these days« hält sie ihre schützende Hand über die beiden Vandalen, die mit gedankenloser Arglist beschlossen hatten, ihr das Leben zur Hölle zu machen.
Bei ihr finden die Jungen, jeder auf seine Weise, etwas von dem Geheimnis, das sie bislang vergeblich im Städtchen gesucht hatten. Der Besuch im Haus am südlichen Flußufer wird für sie zu einer Reise in die Welt.
An jenem Abend, an dem Janine ihnen das Tanzen beibringt, erleben die beiden Freunde zum erstenmal das erregende Gefühl, einem erhitzten Frauenkörper nahe zu sein.
Ihr selbst kommt der Gedanke – nicht unbedingt in diesem Moment, aber später –, daß sie sich gern vor ihnen ausziehen und ein einziges Mal betrachten lassen würde, auch wenn es nur zwei halbstarke, magere Jungen wären.
Nachts brennen die dunklen Kräfte in ihr, die nie ausgelebt werden durften. Dann ihre Not herausschreien und Hurra-Pelles Ermahnung befolgen, sich stets jenem Gott hingeben, dessen Ohr immer für einen da ist – das kann sie nicht. An diesem Punkt reißt der religiöse Faden, und sie kann nur bei sich selbst Halt suchen. Am meisten bedrückt sie, daß es ihr nie vergönnt war, sich umarmen zu lassen, und sei es auch nur auf dem schmutzigen Rücksitz eines Autos, das abseits auf einem Waldweg geparkt hat.
Trotzdem will sie sich auf gar keinen Fall beklagen. Sie hat ihre Posaune. Im winterlichen Morgengrauen spielt sie in ihrer Küche »Creole Love Call«.
Und die Jungen, die den Ameisenhaufen gebracht haben, läßt sie jederzeit ins Haus. Als sie ihnen das Tanzen beibringt, macht es ihr großen Spaß, ihnen die kindliche Scheu zu nehmen.
Ende des Winters und Anfang des Frühjahrs verbringen Sture und Hans Olofson viele Abende bei ihr. Oft gehen sie erst nach Hause, wenn die Winternacht ihr vereistes Schiff bis Mitternacht getrieben hat.
Wieder wird es Frühling, und eines Tages leuchtet die unscheinbare, aber dennoch heißersehnte gelbe Blüte des Huflattichs in einem Straßengraben. Hurra-Pelle steht eines Morgens in der Sakristei der Baptistenkirche und sucht in einem Pappkarton nach Plakaten, die eine Frühlingsandacht ankündigen. Bald ist es Zeit, auch die Plakate für seine Predigten anders zu gestalten.
Aber der Frühling ist trügerisch, denn seine Schönheit kaschiert nur notdürftig, daß auch im Auge des Huflattichs der Tod lauert.
Für Sture und Hans Olofson ist der Tod ein unsichtbar zustechendes Insekt, das am Leben und allem, was geschieht, nagt. Lange Abende sitzen sie auf den Steinen am Fluß oder in Janines Küche und denken darüber nach, wie man den Tod verstehen und beschreiben kann. Sture meint, man müsse sich den Tod wie Kellermeister Jönsson vorstellen, der auf der Treppe des Stadthotels steht und seine Gäste in einem schmierigen schwarzen Jackett empfängt. Es wäre ein leichtes für ihn, Gift in das Schwarzsauer oder die Bratensauce zu träufeln, und schon würden sich die Tischdecken in fleckige Leichentücher verwandeln.
In Hans Olofsons Augen ist der Tod viel zu kompliziert, um mit einem Kellermeister verglichen zu werden. Im Tod eine Gestalt aus Fleisch und Blut, mit Hut, Mantel und tropfender Nase zu sehen, das ist ihm zu simpel. Hätte der Tod ein Gesicht und Kleider und Schuhe, wäre er auch nicht schwerer zu besiegen als die Vogelscheuchen, mit denen Pferdehändler Under seine Beerensträucher
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