Das Auge des Leoparden
nordschwedischen Sommerabend. Gehen würde zu lange dauern, er hat es eilig. Die weiche, morastige Erde brennt …
In einem Wäldchen hinter der stillgelegten Ziegelei errichtet er einen Altar für Sture. Hans Olofson kann sich seinen Freund weder tot noch lebendig vorstellen, er ist einfach fort, aber dennoch baut er einen Altar aus Brettern und Moos. Was er damit anfangen soll, weiß er nicht. Er denkt, daß er Janine fragen, sie in sein Geheimnis einweihen könnte, verwirft den Gedanken jedoch sofort wieder. Es reicht ihm, den Altar einmal am Tag zu besuchen und zu sehen, daß ihn niemand angerührt hat. Auch wenn Sture nichts davon weiß, teilen sie nun doch ein weiteres Geheimnis.
Er träumt davon, daß das Haus, in dem er wohnt, sich losreißt und flußabwärts treibt, um nie mehr zurückzukehren.
Wie ein durchgegangenes Pferd läuft er durch diesen Sommer, läuft am Fluß entlang, bis er außer Atem und durchgeschwitzt ist. Wenn alle Möglichkeiten erschöpft sind, gibt es immer noch Janine.
Als er eines Abends zu ihr läuft, ist sie nicht zu Hause, und einen Moment lang hat er Angst, auch sie könnte nun fort sein. Wie soll er es ertragen, noch einen Menschen zu verlieren, der seine Welt zusammenhält? Aber er weiß natürlich, daß sie bei einer ihrer
Herrlichen Andachten
in der Kirche ist, setzt sich auf die Eingangstreppe und wartet.
Als sie kommt, trägt sie einen weißen Sommermantel über einem hellblauen Kleid. Ein Windstoß fährt durch seinen Körper, eine plötzliche Unruhe.
»Warum wirst du rot?« sagt sie.
»Werd ich doch gar nicht«, antwortet er. »Ich werde nie rot.«
Er fühlt sich ertappt. Schneuz dir doch die Nase, denkt er wütend. Schneuz dir doch dein Loch.
An diesem Abend spricht Janine plötzlich davon, fortzugehen.
»Wohin kann jemand wie ich denn schon gehen«, meint Hans Olofson. »Ich bin in Gävle gewesen. Weiter werde ich wohl nicht kommen. Obwohl – ich könnte natürlich versuchen, mit dem Schienenbus schwarz nach Orsa zu fahren. Oder zum Schneider gehen und ihn bitten, mir ein Paar Flügel anzunähen.«
»Ich meine es ernst«, sagt Janine.
»Ich auch«, sagt Hans Olofson.
»Ich würde nach Afrika reisen«, sagt Janine.
»Nach Afrika?«
Für Hans Olofson ist das ein unbegreiflicher Traum.
»Afrika«, wiederholt sie. »Ich würde in die Länder an den großen Flüssen reisen.«
Dann erzählt sie. Die Vorhänge am Küchenfenster bauschen sich leicht, in der Ferne bellt ein Hund, und sie erzählt von den dunklen Augenblicken. Von der Seelenqual, die in ihr die Sehnsucht nach Afrika weckt. Dort würde sie mit ihrer verschwundenen Nase nicht so auffallen. Dort wäre sie nicht pausenlos mit Abscheu und abgewandten Blicken konfrontiert.
»Lepra«, sagt sie. »Körper, die verrotten, Seelen, die verzweifelt verkümmern. Ich könnte dort etwas bewirken.«
Hans Olofson versucht, sich das Reich der Nasenlosen vorzustellen, Janine zwischen deformierten Menschen zu sehen.
»Willst du etwa Missionarin werden?« fragt er.
»Nein, keine Missionarin. Man würde mich vielleicht so nennen, aber meine Arbeit bestünde darin, Schmerzen zu lindern. Man kann auch reisen, ohne zu reisen«, fährt sie fort. »Ein Aufbruch beginnt immer in deinem Innern. So war es bestimmt auch bei Harry Johanson und seiner Frau Emma. Fünfzehn Jahre haben sie eine Reise vorbereitet, obwohl sie wahrscheinlich glaubten, daß sie doch nie Wirklichkeit werden würde.«
»Wer ist Harry Johanson?« fragt Hans Olofson.
»Er wurde auf einem armen Pachthof in der Nähe von Röstånga geboren«, antwortet Janine. »Er war das zweitjüngste von neun Kindern. Als er zehn war, beschloß er, Missionar zu werden. Das war Ende der siebziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts. Aber erst zwanzig Jahre später, 1898, als er schon verheiratet war und mit Emma vier Kinder bekommen hatte, konnten sie aufbrechen. Harry war damals dreißig, Emma ein paar Jahre jünger, und ihre Reise begann in Göteborg. Auch in Schweden gab es zu jener Zeit Anhänger des schottischen Missionars Fred Arnot. Dessen Ziel war es, ein Netz von Missionsstationen entlang der Routen aufzubauen, die Livingstone bei seinen Reisen durch Afrika benutzt hatte. Von Glasgow aus segelten sie also mit einem englischen Schiff und erreichten im Januar 1899 Benguela. Eines der Kinder starb während der Überfahrt an Cholera, und auch Emma war so krank, daß sie an Land getragen werden mußte, als sie die afrikanische Küste erreichten. Zusammen mit drei
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