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Das Auge des Leoparden

Das Auge des Leoparden

Titel: Das Auge des Leoparden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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weiteren Missionaren und über hundert schwarzen Trägern brachen sie einen Monat später zu einer zweitausend Kilometer langen Wanderung durch unwegsames Gelände auf. Sie brauchten vier Jahre, um Mutshatsha zu erreichen, wo nach Fred Arnots Willen die neue Missionsstation liegen sollte. Ein Jahr mußten sie am Lunga warten, bis der dort herrschende Häuptling ihnen die Erlaubnis erteilte, sein Land zu durchqueren. Die ganze Zeit über litten sie an Krankheiten und Unterernährung; überall war das Wasser verseucht. Als Harry nach vier Jahren endlich Mutshatsha erreichte, war er allein. Emma war an Malaria gestorben, die drei Kinder waren von verschiedenen Darmkrankheiten dahingerafft worden. Die drei anderen Missionare waren ebenfalls gestorben. Harry selbst litt an Malaria, als er mit den wenigen Trägern ankam, die nicht schon Jahre zuvor davongelaufen waren. Er muß unvorstellbar einsam gewesen sein. Wie gelang es ihm nur, an seinem Glauben festzuhalten, nachdem seine ganze Familie auf dem Weg zur Verkündung des Glaubens ausgelöscht wurde? Harry lebte noch fast fünfzig Jahre in Mutshatsha. Als er starb, war rund um die Hütte, aus der seine Missionsstation anfangs bestand, ein richtiges Dorf entstanden. Es gab ein Krankenhaus, ein Kinderheim, ein Haus für ältere Frauen, die in ihren Dörfern der Zauberei angeklagt und verjagt worden waren. Als Harry Johanson starb, nannte man ihn
Ndotolu
, den weisen Mann. Er wurde auf einem Hügel begraben, auf den er sich in seinen letzten Lebensjahren zurückgezogen und wo er eine bescheidene Hütte errichtet hatte. Als Harry Johanson starb, hielten sich englische Ärzte und eine schwedische Missionarsfamilie in Mutshatsha auf. Er starb 1947.
    »Woher weißt du das alles?« fragt Hans Olofson.
    »Eine alte Frau, die Harry in Mutshatsha begegnet ist, hat mir davon erzählt«, antwortet Janine. »Sie kam als junge Frau in die Missionsstation, um dort zu arbeiten, wurde aber krank, so daß Harry sie zur Heimkehr zwang. Letztes Jahr hat sie unsere Gemeinde besucht, und ich habe mich mit ihr lange über Harry Johanson unterhalten.«
    »Sag ihn noch einmal«, bittet Hans Olofson. »Den Namen.«
    »Mutshatsha.«
    »Was hat er dort eigentlich gemacht?«
    »Er kam als Missionar, aber er wurde der weise Mann. Arzt, Handwerker, Richter.«
    »Sag es noch einmal.«
    »Mutshatsha.«
    »Warum fährst du nicht hin?«
    »Mir fehlt etwas, was Harry Johanson hatte. Und seine Emma, obwohl sie niemals ankam.«
    Was war es, was Harry Johanson hatte, denkt er auf dem Heimweg.
    Er schlüpft in Harry Johansons Kleider, eine lange Reihe von Trägern folgt ihm. Ehe die Karawane den Fluß überquert, sendet er Späher aus, um sicherzugehen, daß auf den Sandbänken keine Krokodile lauern. Als die Karawane das Haus erreicht, in dem er wohnt, sind vier Jahre vergangen, und sie haben Mutshatsha erreicht. Mittlerweile ist er allein, die Träger sind fort, alle haben ihn verlassen. Als er die Treppe hinaufsteigt, denkt er, daß der Altar, den er für Sture im Wäldchen hinter der Ziegelei errichtet hat, den Namen Mutshatsha tragen soll …
    Er öffnet die Tür, und der Traum von Harry Johanson zerplatzt, denn in der Küche sitzt Erik Olofson und trinkt zusammen mit den vier notorischen Trunkenbolden der Stadt. Sie haben Céléstine aus ihrer Vitrine geholt, und einer der Säufer fummelt an der minutiös ausgeführten Takelage herum. Ein Mann, der sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, seine schmutzigen Gummistiefel auszuziehen, schläft auf Hans Olofsons Bett.
    Die Säufer glotzen ihn neugierig an, und Erik Olofson erhebt sich schwankend und sagt etwas, das im Klirren einer zu Boden fallenden Flasche untergeht. Normalerweise empfindet Hans Olofson Trauer und Scham, wenn sein Vater wieder einmal trinkt, aber jetzt ist er einfach nur wütend. Der Anblick des Vollmasters auf dem Tisch, gestrandet zwischen Gläsern, Flaschen und Aschenbechern, erfüllt ihn mit derart trauriger Wut, daß er ganz ruhig wird. Er geht zum Tisch, hebt das Schiff hoch und starrt dem fummelnden Trinker direkt in die glasigen Augen.
    »Du rührst sie nicht an«, sagt er.
    Ohne seine Antwort abzuwarten, stellt er das Schiff in die Vitrine zurück. Anschließend geht er in sein Zimmer und versetzt dem Mann, der auf seinem Bett liegt, einen Tritt. »Hoch mit dir. Hoch, zum Teufel«, sagt er und macht weiter, bis der Mann schließlich aufwacht.
    Sein Vater hält sich mit halb heruntergerutschter Hose am Türpfosten fest, und als Hans

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